Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Was Leistungsdruck mit Menschen macht Ein Monster namens Magersucht

Für die 34-jährige Maike Behrendt lief es immer gut im Leben. Trotzdem wird sie während des Studiums magersüchtig und wird in einer Klinik behandelt.
05.08.2017, 17:33 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Ein Monster namens Magersucht
Von Jan-Felix Jasch

Ihr Monster liegt jetzt an der Kette. Manchmal meldet es sich zwar noch, aber Maike Behrendt* weiß, wie sie damit umgehen kann. Behrendt war magersüchtig. Magersucht ist eine spezielle Form der Essstörung. Sie ist unter anderem durch einen rapiden Gewichtsverlust innerhalb kürzester Zeit gekennzeichnet. So wie es bei Behrendt der Fall war. In einem halben Jahr hat sie sich von 62 Kilogramm auf gerade mal 34 herunter gehungert – bei einer Körpergröße von über 180 Zentimetern. Ihr Body-Mass-Index, das Verhältnis zwischen Körpergewicht und -größe, lag gerade noch bei zehn. Bei Normalgewichtigen liegt er zwischen 20 und 25, ab 17,5 spricht man von Untergewicht.

Behrendt ging es eigentlich immer gut. Die 34-Jährige ist Einzelkind, war gut im Sport und kommt aus einem gut bürgerlichen Elternhaus. Finanzielle Probleme gab es dort nicht, das Verhältnis zu ihren Eltern war gut. Sie war immer eine sehr gute Schülerin. Auch die Pubertät änderte daran nichts. Sie hatte sogar gar keine richtige Pubertät, sagt sie. „Ich war immer ein sehr pflegeleichtes Kind.“ Viele Betroffene entwickeln während ihrer Pubertät eine Essstörung, da sich zu dieser Zeit der Körper und auch das Umfeld verändern. Einen weiteren Höhepunkt gibt es bei Frauen während der Wechseljahre. Durch körperliche Veränderungen kann es dazu kommen, dass ein lebenslang kontrolliertes Essverhalten nicht mehr ausreicht und die Hose nicht mehr passt. Dann wird das Essverhalten strenger und kann bis zum Abrutschen in die Magersucht führen.

Druck im Studium

Bei der 34-Jährigen kommt es anders. Zu Beginn der Essstörung absolviert sie ein Studium, das durch ein Leistungsstipendium gefördert wird. „Wir waren die Besten unter Besten.“ Der Leistungsdruck und die Konkurrenz in der Gruppe waren sehr hoch. Pro Semester hat sie problemlos zehn bis zwölf Scheine erreicht, eine sehr hohe Zahl. Aber der Druck im Studium nimmt immer mehr zu. Im dritten Semester steht eine Überprüfung an, ob die Leistungen der Stipendiaten noch förderungswürdig sind. Eine Hausarbeit schließt sie mit der Note 1,3 ab. Nicht genug für sie. Und auch ihre Professorin entscheidet, sie nicht weiter für das Stipendium zu empfehlen. „Das hat mich völlig aus der Bahn geworfen“, sagt Behrendt.

Sie war am Boden zerstört. Nicht wegen des finanziellen Aspektes. Sondern, weil sie die Möglichkeit, zu Sommer-Schulen zu fahren, wichtige Kontakte zu knüpfen oder im Ausland zu lernen, verlieren würde. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt stirbt eine für sie wichtige Bezugsperson. Das Verhältnis zu der Familie ist nicht mehr ganz so eng.

Gegessen hat die 34-Jährige eigentlich immer gut. Sogar eher mehr. „Ich bin mit großen Portionen aufgewachsen.“ Vor einem Urlaub nimmt sie drei Kilogramm ab – eine Diät dient als Einstiegsdroge. Nach dem Urlaub beginnt sie mit dem Joggen – und die Kleidergrößen purzeln. Die Rückmeldungen anderer Menschen beflügeln sie. „Ich habe mich nach dem Laufen stark und unbesiegbar gefühlt“, sagt sie. Aber dieses Gefühl schlägt schnell um. In schlechtes Gewissen. Sie reduziert ihre Ernährung immer weiter. Aus zwei Brötchen werden irgendwann zehn Gramm Schwarzbrotrinde. Regelmäßig kippt Behrendt beim Joggen um. Texte für die Uni liest sie nur noch im Laufen. „Das verbraucht mehr Kalorien.“ Sie hat Panikattacken, träumt regelmäßig von ihrem eigenen Tod. Konzentrationsschwächen nehmen immer mehr zu, ihr ist andauernd kalt, da ihrem Körper die wärmende Fettschicht fehlt. Ihr Körper entwickelt, neben anderen Symptomen, eine Flaumbehaarung, das sogenannte Lanugohaar, um sich gegen die Kälte zu schützen.

Niemand hilft

Irgendwann ist Behrendt klar, dass sie an Anorexie leidet. Im Internet liest sie, dass die Krankheit die Fruchtbarkeit gefährden kann. Sie geht zu ihrem Gynäkologen, und der will sie aufgrund des geringen Gewichts sofort in eine stationäre Behandlung einweisen. Zu diesem Zeitpunkt will sie allerdings nicht wahrhaben, dass ihr Problem so groß ist, und geht wieder nach Hause. Allerdings nur mit der Auflage, dass sie sich in psychotherapeutische Behandlung begibt. Sie sucht in der Folge drei verschiedene Ärzte auf. Keiner gibt ihr das Gefühl, ihr helfen zu können. „Ich war verzweifelt, wollte Hilfe haben, aber niemand konnte sie mir geben.“

Behrendt hört eine Sendung zum Thema Essstörungen im Radio. Eine Therapeutin spricht über das Monster und Behrendt fühlt sich zum ersten Mal verstanden. „Wenn mir jemand helfen kann, dann diese Frau“, sagt sie. Behrendt darf einen Beratungstermin wahrnehmen, obwohl sie keine passende Patientin ist. Sie stammt aus dem Bremer Umland und ist auch schon zu alt für den Zuständigkeitsbereich der Therapeutin. Trotzdem wird sie dort niedrigschwellig beraten und an eine Klinik vermittelt, in der sie ein halbes Jahr behandelt wird. Endlich nimmt sie wieder zu.

Lesen Sie auch

Zu Hause ging allerdings alles wieder von vorne los. „Ich habe das Monster unterschätzt.“ Obwohl sie in therapeutischer Behandlung ist, hat Behrendt einen körperlichen Zusammenbruch. „Da hat es dann endlich Klick gemacht.“ Ab diesem Zeitpunkt hat sie wieder gegessen und intensiver gegen ihr Monster gekämpft. Sie schließt ihr Studium ab, ist aber noch immer nicht zufrieden mit sich und ihrem wieder schwereren Körper. Sie hängt Spiegel ab, hat keine Waage mehr. Erst bei einem Urlaub kommt die Erkenntnis. „Ab dann habe ich gegessen, was ich wollte und meinen Set-Point gefunden.“ Das ist das Gewicht, das für den Körper am gesündesten ist.

Rückblickend betrachtet, hätte sie sich gewünscht, dass sie früher jemand auf ihre Situation anspricht. Nicht gerade mit der Frage nach einer Essstörung. Empathischer. Zum Beispiel mit: „Mir ist aufgefallen, dass du nicht mehr lachst. Wenn du reden möchtest, bin ich da.“ Ihr Gewicht kennt sie bis heute nicht. Es ist ihr auch nicht wichtig. Ihr passen die gleichen Hosen wie vor der Krankheit, und eigene Kinder hat sie jetzt auch.

*Name von Redaktion geändert

Info

Das Mädchenhaus Bremen an der Rembertistraße 32 berät junge Frauen zu Essstörungen. Eine offene Sprechstunde findet mittwochs von 14 bis 16 Uhr statt. Darüber hinaus gibt es verschiedene Psychotherapeuten, die bei gestörtem Essverhalten helfen. Im Internet gibt es unter www.selbsthilfe-wegweiser.de/suche/themensuche/014-002.html eine Liste mit Selbsthilfegruppen. Auch das Studentenwerk Bremen berät Studierende. Die Beratungsstelle ist an der Bibliothekstraße 7 zu finden oder telefonisch unter 0421 / 220 11 13 10 erreichbar.
Magersucht, Bulimie und Binge-Eating
Man unterscheidet zwischen mehreren Formen der Essstörung. Die Magersucht, auch Anorexie, zeichnet sich durch einen starken Gewichtsverlust aus. Dieser wird von den Betroffenen bewusst herbeigeführt. Sie sind auffallend dünn und empfinden sich auch dann noch als zu dick, wenn sie schon unter starkem Untergewicht leiden. Das Gewicht wird in der Regel durch Hungern oder Nahrungsverweigerung reduziert, manche greifen zu Medikamenten und führen das Erbrechen absichtlich herbei. Bulimische Personen sind in der Regel schlank, es ist kaum zu erkennen, dass sie eine Essstörung haben. Kennzeichen der Bulimie sind häufige Essattacken, bei denen in kurzer Zeit große Kalorienmengen gegessen werden. Um das rückgängig zu machen und nicht zuzunehmen, lösen die Betroffenen selbst Erbrechen aus. Das sogenannte Binge-Eating zeichnet sich ebenfalls durch wiederholte Essattacken aus. Im Unterschied zur Bulimie wird der Vorgang jedoch nicht durch Hilfsmittel rückgängig gemacht. Dadurch sind die Betroffenen meist – nicht immer – übergewichtig. Es gibt weitere Formen der Essstörungen, diese lassen sich jedoch keinem der drei Überbegriffe zuordnen. Es gibt eine Form der Sport-Bulimie, bei der Betroffene die Essattacken durch extremen Sport abtrainieren.

Dieser Artikel ist Teil unserer Wochenserie zum Thema Sucht.

Die anderen Teile der Serie finden Sie hier:

Teil 1: Wenn Alkohol zum Problem wird

Teil 2: Cannabis als Begleiter

Teil 3: Neuanfang nach Alkoholsucht

Teil 4: Abhängig vom Online-Poker

Teil 5: Mit Alkohol in den Abgrund

Teil 6: Zwanzig Jahre auf Drogen

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)