Tagelang ist Sven Armbrüster durch die Stadt gelaufen. Er weiß nicht, warum. Er weiß nicht, wo er war. Er weiß nicht, was passiert ist. Einmal wacht er sogar am Bahnhof in Hameln auf, er wollte seinen Bruder besuchen. Vermutet er. Wie er zum Bahnhof gekommen ist? Weiß er nicht. Manchmal hat er gepackt, dann hat er schnell ein paar Sachen in eine Tasche geworfen und ist los. Mal war er drei Tage weg, mal fünf.
Geschlafen hat er am Bahnhof oder an der Schlachte. „Dann habe ich mir die Lichter der Stadt angesehen.“ Er ist aber auch in Hotels oder Gaststätten aufgewacht, ohne zu wissen, wie er dort hingekommen ist. Tagelang hat er keine Post gelesen oder sein Handy ausgestellt. Viel Zeit hat er mit Obdachlosen verbracht, hat mit ihnen gegrillt, mit ihnen getrunken. Bei ihnen hat er sich gut gefühlt. „Weil sie keine Fragen gestellt haben.“ Niemand dort wollte wissen, warum er morgens um zehn Uhr sein drittes Bier öffnet.
Sven Armbrüster hat schon immer viel getrunken. Mit 15, 16 hat er begonnen, zu Hause zu trinken – und irgendwann wird es dann noch mehr. Neben seiner Arbeit als Tankwart, meist in der Nachtschicht, trinkt er mit den Kollegen. 26, 27 war er damals. Erst ist es ein geselliges Feierabendbier mit den Kumpels, die gerade Schluss hatten. Daraus werden zwei Biere, dann ein Sixpack und irgendwann ist es Wodka. Flaschenweise.
Manchmal raucht er Gras. Auch Kokain nimmt er. Ebenso Schmerzmittel wie Tilidin oder Valoron. Je nachdem, was er für eine Stimmung hat. „Getrunken habe ich immer.“ Und wenn er schlafen wollte, hat er eben Gras geraucht. Er hat alles genommen, was "der Markt so hergibt“. Er wollte einfach „den Globus anhalten und aussteigen“.
"Ich weiß, dass ich an der Flasche hänge, wenn ich erst wieder anfange"
Seine Frau lässt sich von ihm scheiden. Danach gelingt es ihm kurze Zeit, sich wieder zu berappeln. Dann folgt ein persönlicher Schicksalsschlag. „Und alles ging wieder von vorne los.“ Es wird immer schlimmer. Irgendwann verliert er seine Anstellung, aber es dauert lange. „Ich bin immer für andere eingesprungen, habe viele Schichten übernommen“, sagt Armbrüster. Er glaubt, dass der Arbeitgeber seinen Konsum nur deswegen so lange mitgemacht hat. „Das war mein Glück“, sagt er, „oder vielleicht auch mein Pech.“
Auch Kunden der Tankstelle haben es gewusst, glaubt er, der Arbeitgeber sowieso. Niemand hat etwas gesagt. Danach hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Trinkt weiter, wird aggressiv, wenn er „voll“ ist. Manchmal erinnert er sich an das, was er getan hat. Meistens nicht. Seine Ausraster werden immer schlimmer.
Dann gerät er in Schlägereien, wirft Fernseher aus den Fenstern eines Hotelzimmers. „Ich war unberechenbar, wenn ich voll war.“ Es sei eine ganz schlimme Zeit gewesen. „Ich war wie zwei unterschiedliche Menschen.“ Seine Freunde haben Angst, was als Nächstes passiert, wenden sich von ihm ab. Bis er sich selber einliefert.
Das ist schon seine zweite Behandlung. Beim ersten Mal gelingt es ihm noch nicht, sich auf die Therapie einzulassen. Er kommt mit der Therapeutin nicht klar, fühlt sich nicht ernst genommen, kann sich nicht öffnen. Nach zwölf Tagen entlässt er sich selbst – er glaubt, dass er es alleine schaffen kann. Kann er nicht. Es hat vielleicht 24 Stunden gehalten, sagt er. Dann trinkt er wieder.
Das Geld geht ihm aus. Er gerät mit dem Gesetz in Konflikt. Und trinkt wieder. „Es wurde immer mehr“, sagt er. Bis er zu einer erneuten Beratung geht, die Therapie und den Entzug auch durchhält. „Ich habe die Dinge dann mal nüchtern betrachtet.“ Körperliche Entzugserscheinungen hat er nicht. „Ich war nur unruhig.“ Medikamente brauchte er nicht.

Nach einer zweiten Therapie ist er auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber.
Ihm wird klar, wie weit es gekommen ist, welche Probleme er gemacht hat. Manche davon holen ihn bis heute ein. Er muss Privatinsolvenz anmelden, bekommt so jedoch seine Schulden in den Griff. Ein Gerichtsverfahren steht noch aus. „Das ist nicht schön, aber damit muss ich leben“, sagt er. Armbrüster will für sein Handeln einstehen. Sein Leben ändern. „Es soll mir eine Warnung sein.“
Armbrüster ist auf der Suche nach einer Wohnung und einem Job. Er möchte in Bremen bleiben. „Vielleicht am Stadtrand.“ Nach seiner Therapie hat Armbrüster seine Kontakte „sortiert“. Zwei Freunde von damals sind geblieben. „Die trinken gelegentlich, können damit umgehen.“
Arbeiten will er am liebsten wieder als Verkäufer. Armbrüster hatte auch schon ein paar Vorstellungsgespräche – für Praktika. Manche Arbeitgeber fragen, warum er sich mit 36 für ein Praktikum bewerbe. „Einige denken, dass ich einen Arbeitsunfall hatte.“ Aber dann erzählt er seine Geschichte. Es sei nicht immer ganz einfach, offen zu sein. „Schlechte Reaktionen habe ich aber noch nicht erhalten.“ Er sucht weiter.
Der 36-Jährige muss seine Freizeit umstellen. „Früher habe ich sechs Stunden gesoffen“, sagt er. Jetzt liest er oder geht spazieren; auch Fußball spielt er wieder. Da trinken einige Mannschaftskameraden schon mal ein Bier. Der Verzicht ist nicht schwer für ihn. Er bestellt dann seinen Kaffee und schaut zu. Immer hat er die vergangenen anstrengenden Jahre im Hinterkopf. Er hat einen Anfang geschafft, trinken wird er nicht mehr. „Ich weiß, dass ich an der Flasche hänge, wenn ich erst wieder anfange.“
Teil 2: Cannabis als Begleiter
Teil 3: Neuanfang nach Alkoholsucht
Teil 4: Abhängig vom Online-Poker
Teil 5: Mit Alkohol in den Abgrund
Teil 6: Zwanzig Jahre auf Drogen
Teil 7: Ein Monster namens Magersucht