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Süchtig nach Online-Poker Plötzlich hat es klick gemacht

Der 55-jährige Kai Sender hat es geschafft, seine Spielsucht nach dreieinhalb Jahren zu besiegen. Mittlerweile leitet er eine Selbsthilfegruppe.
02.08.2017, 18:32 Uhr
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Plötzlich hat es klick gemacht
Von Jan-Felix Jasch

Der entscheidende Satz stammt von seiner Frau Gisela. „Wenn du noch einmal spielst, dann verspielst du mich“, sagt sie, als sie von der Spielsucht ihres Mannes Kai Sender erfährt. Ihm ist klar, dass seine Frau tatsächlich Konsequenzen ziehen wird. In diesem Wissen beginnt Kai Sender seine Therapie – eine gute Grundlage für sein neues Leben, wie er heute sagt.

Zu Beginn seiner Therapie ist er bereits dreieinhalb Jahre spielsüchtig. Online-Poker, das ist sein Ding, komplette Tage verbringt er vor dem Rechner – immer in seinem Büro. So bekommen seine Frau und sein Umfeld nichts mit. Das Geld, das Kai Sender verspielt, geht von seinem Geschäftskonto ab. „Man baut sich ein richtiges Lügengebilde auf“, sagt er. Und es werde immer schwieriger, dieses fragile Konstrukt aufrecht zu erhalten. Irgendwann wird der Druck zu groß. „Dann kommt die Einsicht“, sagt der 55-Jährige. „Wenn man Glück hat.“ Wenn nicht, kommt der Absturz. Sender hatte Glück.

Die Erkenntnis aud heiterem Himmel

Die Erkenntnis ereilt ihn während des Autowaschens. Plötzlich habe es klick gemacht, erzählt er. Aus heiterem Himmel mit dem Gartenschlauch in der Hand. Kai Sender vertraut sich seiner Frau an. Sie ist völlig überrascht, am Boden zerstört. Sender geht auch zu seiner Ärztin. „Ich hatte Suizidgedanken“, sagt er, „es war alles zu viel." Seiner Ärztin bleibt keine Wahl. Sie schickt ihn in eine geschlossene Anstalt.

Nicht einfach für Sender. Auch für seine Frau nicht – und doch ist es eine Erleichterung für beide. Denn Kai Sender beginnt endlich, ehrlich zu sein. Zu seiner Frau, zu seinem Umfeld und auch zu sich. „Das fühlte sich gut an“, sagt er. Seine Geschäftskunden verliert er in wenigen Wochen komplett, aber die Erleichterung überwiegt. Er hat keine "Leichen mehr im Keller", muss nicht mehr lügen, fühlt sich endlich frei.

Angefangen hat Senders Spielsucht mit der Werbemail eines Online-Poker-Anbieters. Da habe er dann drauf geklickt. Man kann es ja mal versuchen, denkt er sich. „Dummerweise habe ich das erste Spiel gewonnen.“ Heute vermutet er, dass das Spielsystem mit Absicht so programmiert gewesen ist. „Danach kamen nicht mehr viele Gewinne.“

„Morgen wird es besser“

Aber er spielt trotzdem weiter. Weil es morgen besser wird. Denkt er. Heute weiß er, dass es nicht besser wird. Das Spielen wird zur Sucht, bestimmt sein Denken. „Der erste Gedanke am Morgen drehte sich um Poker.“ Er richtet seinen Alltag auf das Spielen aus, gerät in eine regelrechte Abwärtsspirale. Bis zu jenem Moment beim Autowaschen.

Kai Sender geht offensiv mit seiner Sucht um. Zusammen mit seiner Frau hat er ein Buch geschrieben. „Ich aus meiner Sicht während der Therapie, meine Frau aus der Sicht der Angehörigen“, berichtet er. Für Angehörige gebe es wenig Angebote, sich zu informieren – mit ein Grund für das Buch. Mittlerweile leitet das Ehepaar Selbsthilfegruppen: er für Spielsüchtige, sie für Angehörige. Beide erfahren großen Zuspruch.

„Ich musste in der Therapie lernen, meine Gefühle zu erkennen“, sagt Sender. Er wuchs in einer religiösen Gemeinschaft auf, mit einem Alleinentscheider an der Spitze. Sender musste nur funktionieren. Gefühle, gerade negative, waren nicht erwünscht. Heute glaubt er, dass dies mit ein Grund für seine Sucht war. Es gelingt ihm, das Erlebte in der Therapie aufzuarbeiten. Mittlerweile ist Reden das Wichtigste für ihn. Seine Frau wisse immer, wie er sich fühle, sagt er. Sie wächst in derselben religiösen Gruppe auf, schafft den Ausstieg aber schon mit 18 Jahren. Kai Sender ist Anfang 30, als er sich von der Gruppe lösen kann. Erst dann werden die beiden ein Paar.

Sender kann mittlerweile sogar wieder spielen: Gesellschaftsspiele mit der Familie oder Freunden. Dabei wird aber nie um etwas gespielt. „Nicht mal um Streichhölzer“, sagt er. Für die Zukunft wünscht er sich, dass mehr spielsüchtige Menschen den Weg in die Öffentlichkeit wagen, sich in Selbsthilfegruppen organisieren und häufiger, vor allem offener, über das Thema Sucht sprechen. Denn „fast jeder kennt einen Süchtigen aus dem Familien- oder Freundeskreis".

Info

Hilfsangebote für Spielsüchtige:
Die Fachstelle Glücksspielsucht bietet Einzel-, Paar- und Gruppenberatungen an. Auch Angehörige erhalten Hilfe. Die Fachstelle ist unter (0421) 9897 927 zu erreichen. Offene Sprechstunden finden montags und donnerstags zwischen zehn und zwölf Uhr sowie mittwochs zwischen 14 und 16 Uhr an der Bürgermeister-Smidt-Straße 35 statt. Anonyme Spieler treffen sich montags von 19 bis 21 Uhr, mittwochs in der gleichen Zeit und Sonntags von 17 bis 19 Uhr im Gemeindezentrum der St. Pauli Gemeinde an der Große Krankenstraße 11.
Neuregelungen im Glücksspielstaatsvertrag
Erklärte Ziele im Glücksspielstaatsvertrag sind, das „Entstehe von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern“, „Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen“ und „Jugend- und Spielerschutz zu gewährleisten“. Dafür gelten seit dem 1. Juli neue Regelungen. Liegen zwei Spielstätten näher als 250 Meter beieinander, muss eine weichen. Der Wirtschaftsbehörde zufolge trifft das in Bremen auf 23 Spielstätten zu. Ein weiteres Kriterium ist die Zuverlässigkeit der Spielstätte. Nach Ansicht der Behörde ist diese in elf Fällen nicht gegeben. All diese Standorte sollen keine weitere Zulassung erhalten. Die Unternehmen können mit Eilanträgen beim Verwaltungsgericht gegen die Bescheide vorgehen. Wie viele das in Bremen sein werden, kann noch nicht beziffert werden.
Dieser Artikel ist Teil unserer Wochenserie zum Thema Sucht.
Die anderen Teile der Serie finden Sie hier:

Teil 1: Alkohol veränderte mein Leben

Teil 2: Cannabis als Begleiter

Teil 3: Neuanfang nach Alkoholsucht

Teil 5: Mit Alkohol in den Abgrund

Teil 6: Zwanzig Jahre auf Drogen

Teil 7: Ein Monster namens Magersucht

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