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Herbert Brückner "Kein Licht zu Hause, kein Klo, kein Wasser"

Der frühere Senator Herbert Brückner stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Dennoch hat der Sozialdemokrat es bis in die Landesregierung gebracht – in seinen jetzt publizierten Erinnerungen legt er Zeugnis ab.
11.12.2022, 20:25 Uhr
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Von Frank Hethey

Herr Brückner, aufgewachsen sind Sie in Schwarme, einer kleinen Landgemeinde rund 30 Kilometer südlich von Bremen. Wäre es nach Ihrem Vater gegangen, hätten Sie noch nicht einmal eine Ausbildung gemacht. Sie wären geworden, was er war: ein Knecht beim Bauern.

Herbert Brückner: Dazu muss man wissen, aus welch super-ärmlichen Verhältnissen ich stamme. Meine Familie war eine ländliche Arbeiterfamilie, in der dörflichen Sozialstruktur standen wir ganz unten. Als Häuslinge lebten wir in einem Haus, das dem Großbauern gehörte, einem Häuslingshaus. Wir hatten kein Licht zu Hause, kein Klo, kein Wasser, als Kind musste ich noch unsere beiden Kühe hüten...

Daher auch der Titel Ihrer Lebenserinnerungen: "Vom Hütejungen zum Bremer Senator".

Darum geht es mir – ich will zeigen, was mir zugedacht war, was aus mir geworden wäre... 

... wenn sich nicht ein Schlachter Ihrer angenommen hätte.

Richtig, eigentlich war schon alles abgemacht. Aber dann kam mir ein Schlachter zu Hilfe. Der meinte, ich sollte einen ordentlichen Beruf erlernen, er hat den Kontakt zu einem Fabrikbesitzer im Nachbarort vermittelt, dort habe ich dann eine kaufmännische Lehre gemacht. Der Lehrvertrag war ein tolles Erlebnis für mich, unbeschreiblich. 

Im Grunde merkwürdig: Man sollte doch annehmen, dass Eltern das Beste für ihre Kinder wollen. Warum nicht in Ihrem Fall?   

Beim Bauern zu arbeiten, das hielt mein Vater für eine sichere Sache. Meine beiden älteren Brüder haben das ja auch gemacht, das war normal. Erst viel später habe ich kapiert, dass mein Vater damals  vorwiegend arbeitslos war. Er half, wenn er gebraucht wurde. Eine Lehre betrachtete er eher skeptisch.

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Ihre Mutter ist dann auch mit Ihnen zur Fabrik gefahren, nicht Ihr Vater.

Das liegt daran, dass ich von meiner Oma und meiner Mutter erzogen wurde, die beiden waren meine Bezugspersonen. Die Personen, die mich gelenkt haben – mein Vater war das nicht so sehr. Man muss verstehen: Meine Eltern waren ganz einfache Leute, meine Mutter hat nur plattdeutsch gesprochen. 

Und wie haben Ihre Eltern dann Ihre Karriere als Politiker beurteilt?

Mein Vater fand das gut, aber er hat nie darüber gesprochen. Ähnlich meine Mutter, beide waren im Grunde ganz unpolitische Menschen. Bei jeder Wahl habe ich ihnen gesagt, dass sie die SPD wählen sollen.

Beim Beruf des kaufmännischen Angestellten sind Sie nicht geblieben, Sie haben sich in der Kirchenarbeit engagiert und eine Ausbildung zum Diakon gemacht. So sind Sie 1964 nach Bremen gekommen – in die Neue Vahr, die damals noch ziemlich neu war.

Es war noch alles im Aufbau, es gab keine Gastwirtschaft und keine Läden. Die Kirche füllte das Vakuum, die Leute standen zu Hunderten vor dem Gemeindezentrum der Heilig-Geist-Kirche. Als Verantwortlicher für die Jugendarbeit wollte ich erst mal wissen, wie die Leute in der Neuen Vahr leben. Deshalb habe ich eine soziologische Befragung gemacht und ganz neue Erkenntnisse gewonnen, diese Studie liegt noch heute auf meinem Dachboden. 

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Praktisch zeitgleich sind Sie in die SPD eingetreten – war das ein Selbstläufer? 

Ich hatte mir vorgenommen, in eine Partei einzutreten. Eine andere Partei als die SPD kam im Grunde nicht infrage, als Alternativen gab es nur die CDU und die FDP. Sicher waren meine Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen und meine Lebenssituation mitentscheidend. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität waren für mich große Ziele.  

Sie gehörten damals zu den "jungen Wilden", zu den Parteilinken, es ging gegen das Establishment in der SPD, gegen Männer wie Fraktionschef und Gewerkschaftsführer Richard Boljahn.       

Er hatte ein ziemliches rustikales Auftreten. Als Chef der Wohnungsbaufirma Neue Heimat war er die Hauptfigur in der Bauland-Affäre. Damit wurde deutlich, wohin unkontrollierte Macht in der Politik führt. In der Partei und der Verwaltung gab es nur Ja-Sager oder Mitläufer. Das wollten wir ändern, wir wollten innerparteiliche Demokratie und Transparenz, wir waren gegen Ämterhäufung und Machtfülle.  

Sind diese Ziele denn langfristig erreicht worden? Gibt es nicht heute auch noch Filz in der Partei – Menschen, die mit Behördenposten versorgt werden, aber eigentlich keine Aufgabe haben und auch keine Überzeugung?

Natürlich muss man eine Überzeugung haben, wenn man in der Partei ist. Manchmal ist es heute so, dass die Leute zu sehr den Weg des geringsten Widerstands gehen. Damals hatten wir doppelt so viele Mitglieder wie heute. Für jeden Posten gab es mehrere Bewerbungen, entsprechend auch heftige Auseinandersetzungen.

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Davon kann man heute nicht mehr unbedingt sprechen.    

Für meinen Geschmack ist das Parteileben viel zu ruhig geworden. Ich finde, dass die Partei sich viel stärker zeigen müsste – ehrlich zeigen, wofür sie eigentlich steht.

Apropos Parteileben: Sie galten 1975 als aussichtsreicher Kandidat für den Posten des Jugendsenators als Nachfolger von Annemarie Mevissen...

Daraus wurde aber nichts, sie hat mich nach eigener Aussage erfolgreich verhindert. Sie wollte Kontinuität und keinen Nachfolger, der alles auf den Kopf stellt. Und vor allem keinen Mann von der Kirche.

Dafür sind Sie dann ja noch im gleichen Jahr Gesundheitssenator geworden. Wieder gegen einigen Widerstand, diesmal von Bürgermeister Hans Koschnick. Sein Favorit war der Gründungsrektor der Universität Bremen, Thomas von der Vring.

Die Sache schien zunächst aussichtslos. Die Delegierten haben sich dann aber ziemlich eindeutig für mich entschieden. 

Und wie war dann das Verhältnis zu Koschnick?

Schlagartig anders, wir haben ein blendendes Verhältnis gehabt. Gleich am ersten Tag hat er mir gesagt: Wir arbeiten gut zusammen – was gewesen ist, ist gewesen. 

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Insgesamt sind Sie zwölf Jahre lang Senator gewesen, bis 1983 für Gesundheit und Umweltschutz, später auch Sport. Von 1985 bis 1987 waren Sie unter dem Koschnick-Nachfolger Klaus Wedemeier für Gesundheit und Sport zuständig. Wenn Sie heute zurückblicken, was würden Sie als Ihre größten Errungenschaften bezeichnen? 

Bei meinem Amtsantritt hatten wir eine Menge kleiner Krankenhäuser in Bremen, das musste reformiert werden. Da gab es noch ein Krankenhaus in Findorff – was das für Probleme gemacht hat! Wir haben es aufgelöst, weil wir wussten: Die Menschen können in Bremen-Mitte besser behandelt werden. Wir haben die Krankenhäuser damals zusammengelegt – so, wie sie heute noch sind. Das Krankenhaus in Bremen-Nord gäbe es sonst nicht. Das ging natürlich nicht ohne Konflikte ab.

Heute macht der Klinikverbund Gesundheit Nord (Geno) mit seinen fünf Standorten häufig negative Schlagzeilen, die Finanzierung läuft aus dem Ruder.

Wir haben immer Befürchtungen gehabt, gegen die Kosten nicht anzukommen. Zum Beispiel, als wir die Herzchirurgie nach Bremen geholt, in das Krankenhaus Links der Weser. Aber es hat dann doch funktioniert. Heute bekommen wir das nicht mehr so gut hin. Zum Teil hat das mit bundesweiten Problemen zu tun, zum Teil sind es aber auch Bremer Probleme.  

In Ihre Amtszeit fällt auch die Neuordnung der Psychiatrie...

Eine der wichtigsten Entscheidungen in meinem Leben! Im ehemaligen Kloster Blankenburg bei Oldenburg waren auch Patienten aus Bremen untergebracht. Von einem Besuch kam ich wie betäubt zurück, mir war klar: Das müssen wir ändern. 

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Der Ansatz war, die Menschen aus ihrer Isolation herauszuholen.

Genau, unsere Devise lautete: "Zurück ins Leben!" Die psychisch Kranken waren damals alle entmündigt, wir wollten sie wieder selbstständiger machen. Wir haben sie in kleinen Häuser in der Stadt zusammengelegt, immer fünf bis zehn Personen mit einem Pfleger. Zehn Jahre hat es gedauert, bis alles abgeschlossen war. Mit Henning Scherf als Sozialsenator war diese Aufgabe gut zu bewältigen. 

Als Koschnick 1985 zurücktrat, waren Sie als einziger Senator für Scherf als Nachfolger, alle anderen sprachen sich für Wedemeier aus.

Ich fühlte mich seitdem im Senat nicht mehr richtig wohl. Als der damalige SPD-Landesvorsitzende Hans-Dieter Müller im Sommer 1986 überraschend starb, fragte man mich, ob ich die Nachfolge antreten wollte. Beides ging nicht: Senator sein und Parteichef, deshalb bin ich von meinem Amt zurückgetreten.

Sehr lange waren Sie dann nicht Parteivorsitzender...

Nur gut zwei Jahre bis November 1988. Damals lief der parlamentarische Untersuchungsausschuss zu den Vorgängen am Zentralkrankenhaus St.-Jürgen-Straße, es ging um Untreue und illegale Aktivitäten des von mir berufenen Verwaltungsdirektors. Da stand natürlich auch ich zur Debatte. Zuletzt kam heraus, das nichts dran war an den Vorwürfen gegen meine Person. 

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Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat?

Diese Affäre hat mich politisch schwer beschädigt. Ich hatte nicht den Eindruck, noch genügend Rückhalt in der Partei zu haben. Deshalb reifte in mir der Gedanke, den Parteivorsitz niederzulegen und mich ganz aus der Politik zurückzuziehen.

Sie waren damals erst 50 Jahre alt. Sie haben dann noch lange als Umweltbeauftragter der Kirche gearbeitet und als Umweltreferent und Präsident der Naturfreunde Internationale. Bereits seit 1973 wohnen Sie in einem alten Fachwerkhaus in Ihrem Geburtsort Schwarme. Wie kamen Sie auf den Gedanken, Ihre Lebenserinnerungen zu schreiben?

Den ersten Teil bis zum Beginn meiner Senatorenzeit habe ich schon vor längerer Zeit verfasst, aber eigentlich nur für meine beiden Kinder. Memoiren wollte ich nie schreiben, erst später kam der Gedanke auf, mich an die Öffentlichkeit insgesamt zu wenden.

Das wird einige Zeit gedauert haben.

Etwa zwei Jahre habe ich für die Senatorenzeit gebraucht – das ging auch nur, weil ich alle wichtigen Unterlagen in Kopie bei mir zu Hause hatte. Nun bin ich froh, dass ich damit fertig bin. Ein zweites Mal könnte ich diese Arbeit nicht mehr schaffen, das wäre mir inzwischen zu anstrengend.

  • Das Gespräch führte Frank Hethey. 

Zur Person

Herbert Brückner (84) gehörte als Gesundheits- und Umweltsenator von 1975 bis 1987 dem Bremer Senat an, von 1986 bis 1988 war er Landesvorsitzender der SPD. 

Zur Sache

Herbert Brückner: Vom Hütejungen zum Bremer Senator, Kellner Verlag, 248 Seiten, € 18,90

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