Von "Gefühlsduselei oder unklaren idealistischen Gefühlen" wollte Minna Bahnson nichts wissen. Wenn die linksliberale Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft das Ende der Prostitution in der Helenenstraße forderte, dann aus klarer Erkenntnis des Scheiterns der bisherigen Vorgaben. Die von der "kühlen Vernunft, von dem klaren Verstande der Männer" verordneten Gesetze hätten "auf der ganzen Linie Schiffbruch gelitten", erklärte die damals 60-Jährige am 30. April 1926 im Landesparlament. Die Mehrheit des Hohen Hauses stimmte ihrem Antrag zu, ab 1927 gehörte die staatlich tolerierte und beaufsichtigte Prostitution im Steintorviertel der Vergangenheit an. Freilich nur für kurze Zeit, gerade einmal ein Jahr nach der "Machtübernahme" drehten die Nationalsozialisten die Uhren wieder zurück. Ab dem 31. Januar 1934 war alles wie vorher. Sogar die zwischenzeitliche Umbenennung der Helenenstraße in Frankenstraße wurde rückgängig gemacht.
So ganz neu sind die aktuellen Gedankengänge von Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) also nicht. Wenn er sich heute für die Aufhebung des Rotlichtbezirks einsetzt, führt er ähnliche Argumente ins Feld wie Bahnson und andere Gleichgesinnte vor fast 100 Jahren. Schon damals ereiferte sich Bahnson gegen "die weiße Sklaverei und den Mädchenhandel", schon damals nahm ihre kommunistische Kollegin Gesine Becker die von Mäurer kritisierte Armutsprostitution ins Visier – unter den Frauen in der Helenenstraße sei "nicht ein einziges bremisches Mädchen", wirtschaftliche Not treibe sie in die Arme der Freier. In der gleichen Sitzung beklagte die SPD-Abgeordnete Anna Stiegler die "Zwitterstellung" des Staates. Einerseits verfolge der Staat die illegale Straßenprostitution, andererseits sei er als Schutzherr der Helenenstraße der "größte Kuppler".
Von der Wohn- zur Bordellstraße
Die Anfänge der staatlich beaufsichtigten Prostitution in der Helenenstraße reichen zurück bis in die frühen Jahre des Kaiserreichs. Von langer Hand geplant war der Standort im Steintor wohl eher nicht. Vielmehr dürfte es einem fehlgeschlagenen Grundstückskauf zuzuschreiben sein, dass sich ausgerechnet dort das horizontale Gewerbe niederließ. In der damals rasch wachsenden Östlichen Vorstadt wollte der Bauunternehmer Carl Philipp Weiland eigentlich eine konventionelle Wohnstraße anlegen, die von der Straße Vor dem Steintor bis zur Schmidtstraße reichen sollte. Zu seinem Verdruss weigerten sich aber die Schwestern Engelken – eine namens Helene – , ihr Grundstück an der Schmidtstraße 18 abzugeben. Somit blieb der Durchbruch zur Schmidtstraße auf der Strecke.
Warum die Helenenstraße unter diesen Umständen ausgerechnet den Vornamen der störrischen Grundstücksbesitzerin erhielt, ist eifrig erörtert worden. Um ihr zu schmeicheln und sie dadurch umzustimmen, lautet eine These. Eine andere, um es ihr heimzuzahlen – eine Bordellstraße, die den Vornamen der Widerspenstigen besudelt. Diese hämische Variante erscheint am wahrscheinlichsten, beantragte Weiland die Namensgebung doch erst, als er die Hoffnung auf das Engelken-Grundstück aufgegeben hatte. Dagegen versichert der Bremen-Chronist Lüder Döscher, die Straße habe ursprünglich Hellenenstraße heißen sollen, als Entsprechung zur gegenüberliegenden Römerstraße. Der Schildermaler habe aber mit den Hellenen nichts anfangen können und sich an der damals populären Oper "Die schöne Helena" orientiert.
Ein soziales Experiment
Wie dem auch sei, die einzige Sackgasse im Viertel bot offenkundig beste Voraussetzungen für ein soziales Experiment. Schon lange war den Behörden die Prostitution ein Dorn im Auge. Dass sie verwerflich sei, darüber bestand Einigkeit in maßgeblichen Kreisen. Doch das änderte nichts daran, dass die "käufliche Liebe" regen Zulauf hatte und es mit wachsender Bevölkerung immer mehr Männer gab, die die Dienste von Prostituierten in Anspruch nahmen. Mit dem Ergebnis, dass sich Geschlechtskrankheiten verstärkt ausbreiteten, wie die Bremer Kreisärzte feststellten. Erste Versuche, die Prostitution staatlicher Aufsicht zu unterwerfen, hatte es bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegeben. Mit der Reichsgründung von 1871 hielten die Gesetzgeber dann die Zeit für gekommen, die Zügel weiter anzuziehen. Prostitution sollte nicht nur geregelt sein, sie sollte auch aus der Öffentlichkeit verschwinden.
Der berüchtigte Paragraf 361 des Strafgesetzbuchs sah eine nicht näher definierte Haftstrafe vor für "eine Weibsperson, welche, polizeilichen Anordnungen zuwider, gewerbsmäßig Unzucht treibt". Dieser Paragraf konnte weit ausgelegt werden. Praktisch jedem Mann war es freigestellt, Frauen gewerbsmäßiger Unzucht zu bezichtigen und anzuzeigen. "So niedrig wertet man das so hochgepriesene deutsche Weib! Die Jagd ist frei, hoch lebe die deutsche Gesittung!", empörte sich die Frauenrechtlerin Minna Cauer. Wer seinen Körper wirklich verkaufte und unbehelligt bleiben wollte, konnte der Verfolgung durch die Sittenpolizei nur auf einem Weg entgehen. Die Zauberformel hieß "controllierte und reglementierte Prostitution". Mit Reglementierung war die polizeiliche Erfassung der Prostituierten gemeint, mit Kontrolle ärztliche Zwangsuntersuchungen. Beides gab es in Bremen seit 1865.
Die erste ihrer Art
Was es nicht gab, war ein eng abgesteckter Tätigkeitsbereich, der die staatliche Aufsicht erleichterte. Das änderte sich, als die Helenenstraße am 1. Oktober 1878 als Kontrollstraße eingerichtet wurde. Und zwar als erste ihrer Art im gesamten Reich. Die Initiative dazu ging allem Anschein nach von Weiland aus, mit seinem Ansinnen rannte er offene Türen ein. Natürlich gab es Proteste aus der Nachbarschaft, aber eine Petition mit 2200 Unterschriften verlief im Sande. Als sich 1891 doch noch die Möglichkeit zu einem Durchbruch zur Schmidtstraße ergab, wiegelten Weiland und die Polizeidirektion ab. Auch der Antrag, ihm die Konzession für die Kontrollstraße zu entziehen, wurde abgeschmettert. Offenbar funktionierte die Zusammenarbeit zur beiderseitigen Zufriedenheit. Für Weiland als Vermieter erwies sich die Kontrollstraße als einträgliches Geschäft. Minna Bahnson rechnete später vor, Prostituierte müssten täglich sechs Freier bedienen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Kreisärzte schlugen sich indessen auf Weilands Seite. "Der verhältnismäßig hohe Mietpreis rechtfertigt sich durch die Entwertung der Straße und die unglaubliche Abnutzung des Mobiliars", erklärten die Kreisärzte.
Massive Eingriffe für die Prostituierten
Für die "Liebesdienerinnen" gingen mit der staatlichen Aufsicht eine Reihe von massiven Eingriffen in die persönliche Freiheit einher. Sie arbeiteten nicht nur in der ihnen zugewiesenen Straße, sie hatten dort auch zu wohnen. Ihre Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt. Der Besuch von Theatern und Museen war untersagt, ebenso der Gang in den Bürgerpark oder die Wallanlagen. Im Gegenzug sorgte der Staat für sanitäre Anlagen, eine Polizeistube am Eingang der Helenenstraße sollte unerwünschte Besucher fernhalten. Damit waren vor allem Zuhälter gemeint. "Anders als im Bordell waren die Frauen von keinem Zuhälter abhängig", schreibt die Historikerin Romina Schmitter. Als Zwangsmaßnahme wollten die Behörden die Kontrollstraße nicht verstanden wissen. "Die Bewohnerinnen der Straße werden ausschließlich auf ihren Antrag unter Kontrolle gestellt", hieß es – und auch wieder auf eigenen Wunsch entlassen. Von einer "Kasernierung" könne keine Rede sein, vielmehr handele es sich um eine "Konzentrierung der Prostitution".
Anders als man meinen könnte, versuchte der Senat nicht etwa, die Existenz seiner Kontrollstraße schamhaft zu verbergen. Im Gegenteil, das traditionell sittenstrenge Bremen schmückte sich mit der vermeintlich fortschrittlichen Einrichtung. Das "Bremer System" einer Kontrollstraße samt rigoroser Verfolgung anderweitiger "gewerbsmäßiger Unzucht" galt als vorbildhaft. Fachpublikum wurde durch die Straße geführt und ein Holzmodell auf internationalen Gesundheitsmessen gezeigt. Gleichwohl blieb die Helenenstraße umstritten, in der Bürgerschaft stand sie häufiger auf der Tagesordnung. Die Linksparteien geißelten die Prostitution als Ausgeburt des Kapitalismus, bürgerliche Vertreter sahen die Beaufsichtigung "gewerbsmäßiger Unzucht" nicht als Staatsaufgabe an. "Wir hoffen und wünschen, daß diese Straße bald verlegt oder aufgehoben werde", sagte Schulvorsteher Ludwig Wilhelm Roselius im April 1897 in der Bürgerschaft.
Geschlechtskrankheiten im Fokus
Der Reformeifer nach dem Ersten Weltkrieg verlieh dem Thema neue Aktualität. Aus Sicht von Bahnson hatte sich das "Bremer System" als totaler Fehlschlag erwiesen. Das machte sie vor allem an der ungebremsten Verbreitung von Geschlechtskrankheiten fest – dem wichtigsten Argument für die Existenz der "Controlldirnen". Als die Frauenrechtlerin ihren Antrag im Februar 1926 in der Bürgerschaft einbrachte, lag das Thema auch überregional in der Luft. Parallel wurde im Reichstag ein Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten beraten, das am 1. Oktober 1927 in Kraft trat. Reglementierte Prostitution und Kontrollstraßen waren damit verboten. Künftig rückten auch geschlechtskranke Männer in den Fokus der Gesundheitsbehörden, nicht nur Frauen. Um jeden Makel zu tilgen, wurde die Helenenstraße in Frankenstraße umbenannt, das passte zur Friesen- , Sachsen- oder Stedinger Straße im Umfeld. Doch das war nicht alles. Bahnson setzte auf ein Bündel von Maßnahmen, sie wollte den "Mädchen" einen Weg zurück in die bürgerliche Gesellschaft bahnen. Zudem hoffte sie, der frei werdende Wohnraum werde die "furchtbare Wohnungsnot" lindern.
Diese Hoffnung erfüllte sich allerdings nicht, zahlreiche Prostituierte blieben vor Ort und boten weiterhin ihre Dienste an. Sieben Jahre später wurde die Kontrollstraße wiederbelebt, sie erhielt sogar ihren alten Namen zurück. "Ausgerechnet die Nazis wichen der normativen Kraft des Faktischen", schreibt der Journalist Kai Schöneberg. Doch das dürfte nicht alles gewesen sein, dahinter steckte eine rigorose Gesundheitspolitik mitsamt Zwangssterilisationen und Euthanasiemorden. Als das "Dritte Reich" untergegangen war, erinnerte man sich im Mai 1946 an Bahnson als "alte Vorkämpferin gegen Prostitution und Bordellwesen". Doch ihre Ratschläge verhallten ungehört, die Helenenstraße blieb als "sündige Meile" bestehen.

Gutbürgerliche Fassade: die Helenenstraße um 1910.

Tolerierte Prostitution: Eingangsbereich der Helenenstraße im Sommer 1978.