Ihr elfter Geburtstag, er bleibt der Tag der bitteren Gewissheit: Adelina ist tot. Alle Hoffnungen, das Mädchen aus Bremen-Kattenturm noch lebendig zu finden, gehören seit diesem Dienstag im Oktober 2001 der Vergangenheit an. Stark verwest, in einen blauen Müllsack verpackt, so hat eine Pilzsammlerin die Leiche am Wochenende zuvor im Weyher Pastorenwäldchen entdeckt – 101 Tage nach dem Verschwinden des Kindes. Verschleppt, vergewaltigt, ermordet und verscharrt, das steht im Anschluss an die gerichtsmedizinischen Untersuchungen außer Zweifel. Alle weiteren Spuren führen ins Nichts. Der Fall bleibt ungelöst. Bis heute.
„Wir haben gesucht und gesucht“, erinnert sich Dirk Siemering, der damalige Leiter der Vermisstenstelle. 100 Tage lang seien alle mit dem Gedanken an die Zehnjährige aufgestanden und eingeschlafen, sagt der Polizist im Jahr 2011. „Es war, als hätte Adelina sich in Luft aufgelöst.“ Und wie viele seiner damaligen Mitstreiter zeigt er sich nach wie vor bewegt von der womöglich für immer ungeklärten Kindstötung. „Dort im Wald zu stehen und diesen Leichnam von Adelina – wo man so lange gehofft hatte – in der Form zu finden“, das habe erschüttert, ergänzt er in einem Interview bei Radio Bremen.
Adelina ist an der russisch-kasachischen Grenze nahe Orenburg, 1200 Kilometer südöstlich von Moskau, geboren. Der Letzte, der das Mädchen lebendig gesehen hat, ist ihr Urgroßvater. Unweit der Familie lebt dieser in einem bescheidenen Kattenturmer Wohnblock. Er habe seiner Urenkelin am Nachmittag des 28. Juni 2001 – wenige Minuten vor ihrem Verschwinden – noch ein Eis angeboten, gibt er zu Protokoll. Das habe sie allerdings stehen lassen, um daheim ihrer erkrankten Mutter zu helfen. Gegen 17.30 Uhr habe sich Adelina auf den Weg nach Hause gemacht.

Im Oktober 2001 findet eine Pilzsammlerin die Leiche des Kindes im sogenannten Pastorenwäldchen in Weyhe-Leeste. Polizeibeamte suchen das Terrain akribisch nach Spuren ab und stoßen dabei auf vergrabene Badeanzüge.
Die lediglich rund 200 Meter nach Hause, sie schafft sie nicht. Tage des Rätselratens, Hoffens und Bangens folgen. Mit Spürhunden, Tauchern und Hubschraubern durchkämmen die Ermittler schließlich weiträumig die Umgebung. „Wenn sie mich jetzt sieht und hört“, sagt ihre Mutter auf einer Pressekonferenz. „Ich bin bei ihr in Gedanken und hoffe, dass sie wieder bei mir sein wird.“ Aber selbst die mit Wärmebildkameras ausgerüsteten Flieger der Luftwaffe machen keinerlei Spur aus. Nichts.
Als Erster gerät der leibliche Vater in den Verdacht, das Mädchen entführt zu haben, dann der Stiefvater. Für einige Tage hört die Polizei zu diesem Zeitpunkt bereits die Telefonate der Familie ab – die Mutmaßungen führen bis in die Abgründe des illegalen Organhandels. Im Umfeld entfacht derweil der Wunsch, den Fall auf eigene Faust zu lösen. Der Stiefvater ist gerade ein paar Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen, da verschleppen Unbekannte ihn in einen nahe gelegenen Wald. Sie fesseln ihn an einen Baum und foltern ihn – ergebnislos. Keinerlei Geständnis, keinerlei Hinweis, nichts, das das plötzliche Verschwinden Adelinas erklären könnte.
Es vergehen Monate und Jahre. Die Angehörigen, die Menschen aus der Region, die Staatsanwaltschaft und die Polizei hoffen immer wieder auf einen Durchbruch. Aber auch Stand heute, 20 Jahre später, haben die Behörden nicht mehr in der Hand als nahezu 2000 Anhaltspunkte, Verdachtsmomente und Indizien, darunter elf fragwürdige Kleidungsstücke. Sechs Damenbadeanzüge, ein Oberteil, eine Umstandsmiederhose und drei Strumpfhosen, allesamt Anfang 2002 nahe Adelinas Fundort entdeckt: Sie grenzen die Tätergruppe ein. „Neben verschiedenen Tätertypen aus dem Deliktsbereich der Sexualstraftäter“, teilt das Bundeskriminalamt mit, komme damit insbesondere eine Personengruppe infrage, transvestitisch veranlagte Fetischisten.
Unter Verdacht
Der Bekannteste einer letztlich guten Handvoll an Tatverdächtigen ist ein 2004 einschlägig in Erscheinung tretender, 2005 inhaftierter Sicherheitsmann aus Bremerhaven: Louis Jäger (Name geändert). Eine Annäherung.
Jäger – 1973 im Sauerland geboren, Sohn eines Seemanns und einer Krankenschwester – gilt zeitlebens als Muttersöhnchen. Haben die anderen Kinder keine Lust, mit ihm zu spielen, lässt seine Mutter sie strammstehen. Noch mit 14 Jahren packt sie ihm den Ranzen und legt ihm seine Klamotten raus. Mit 16 bricht der bereits zweimal Sitzengebliebene dann die Hauptschule ab. Wegen seiner krummen Beine und seiner Sprachstörung gemobbt, ist er seinem damaligen Umfeld insbesondere dafür bekannt, Jagd auf Tiere zu machen. Nur allzu gern habe er etwa Mäusen Badreiniger unter das Fell gespritzt oder Frösche an Bäume genagelt, heißt es. Oder er habe den Fröschen die Beine abgeschnitten – einfach, um zu schauen, wie weit sie ohne hüpfen können.
Ein interessierter, halbwegs intelligenter Mensch, ja, das sei Jäger durchaus gewesen, sagen Zeugen wie Gutachter, vor allem jedoch ein stumpfsinniger Geist, rüpelhaft und frei von Mitgefühl. Nach der Schule ist er drei Jahre lang arbeitslos, dann engagiert ein Bauhof ihn als Wächter. Dem Wehrdienst folgt die Rückkehr in die Heimat. Dort schließt Jäger sich einer Gruppe Neonazis an, lernt eine junge Frau aus einem Nachbarort kennen und bringt mit ihr seine erste Tochter zur Welt. Nahezu zeitgleich tritt der nach wie vor als verklemmt geltende, mit nur einem Hoden geborene Spätzünder erstmals als Sexualstraftäter in Erscheinung: In einem entlegenen Wald versucht er, eine 17-jährige Anhalterin zu vergewaltigen.
Dem Gefängnis dank einer Bewährungsstrafe gerade so entkommen, zieht er mit Anfang 20 gemeinsam mit seinen Eltern, seinen Großeltern und seiner Tochter nach Bremerhaven, um dort als Klempner, Sanitäter und Ticketkontrolleur zu arbeiten. Schnell verliebt er sich in eine neue Frau, heiratet und bekommt 2002 seine zweite Tochter. Der frisch Angetrauten ist er zu diesem Zeitpunkt bereits länger verdächtig, regelmäßig ziellos herumzufahren, Unsummen für Benzin auszugeben und den Straßenstrich der Seestadt zu besuchen, da steht ihm ein weiterer Prozess ins Haus. Wieder geht es um Vergewaltigung, wiederum ist es eine 17-Jährige. Das Verfahren endet jedoch vorzeitig, mangels Beweisen. Seine Frau trennt sich dennoch von ihm. Mit dem gemeinsamen Kind zieht sie aus.
Wenige Wochen später, Donnerstag, 6. Mai 2004: Es ist der Tag der ersten jener zwei Taten, die der Tötung Adelinas zum Auffallen ähneln, der Fall Levke aus Cuxhaven-Altenwalde. Jäger, mittlerweile wieder arbeitslos, wohnt allein mit seiner ersten Tochter im Apartment der Familie. Auf einer seiner Touren, diesmal durch den Cuxhavener Raum, erblickt er das damals achtjährige Mädchen. Levke hat ihren Haustürschlüssel vergessen, also wartet sie nahe ihrem Elternhaus auf ihren Vater. Jäger nähert sich und lockt sie in seinen Wagen – die beiden fahren in ein Waldstück. Dort angekommen, vergeht er sich zunächst sexuell an ihr. Im Anschluss erdrosselt er sie mit einem Kabelbinder.
Während die Polizei wenig später auf einem Waldparkplatz – rund 25 Kilometer entfernt von Levkes Elternhaus – die Jacke des Kindes, die Sporttasche und den Schulranzen findet, tourt Jäger ein geeignetes Versteck suchend durch die Region. Die Wahl des besten Ablageorts für die Leiche fällt auf seine alte Heimat, das Sauerland. Am Ende ist es wieder einmal mehr ein Pilzsammler, der das Mädchen am 23. August 2004 entdeckt, abgelegt in einem kleinen Waldstück inmitten der bergigen Idylle. Bereits zwei Monate später begeht Jäger im Landkreis Rotenburg das nächste Verbrechen, mit dem ebenfalls achtjährigen Felix aus Ebersdorf sucht er sich diesmal einen Jungen. Auf offener Straße fängt Jäger den Rad fahrenden Grundschüler ab, um ihn mit Anbruch der Dunkelheit zu vergewaltigen und – mit bloßer Hand – zu erwürgen. Den Körper versenkt er anschließend in der Geeste, zu einem kleinen Päckchen gebunden.
Wer, wenn nicht Louis Jäger? Wer sonst kommt so sehr infrage wie dieser Mann, auch Adelina getötet zu haben?
Nachdem die Polizei ihn am 8. Dezember 2004 festnimmt, zeigt Jäger sich im Fall Levke noch am selben Abend geständig. Einen Monat später gibt er den entscheidenden Hinweis auf den Verbleib von Felix. Die Bremer Ermittler haben damit endlich eine heißere Spur. Jäger jedoch beherrscht es, mit ihnen zu spielen und sie vor Rätsel zu stellen. Das gilt während der Untersuchungshaft wie nach dem Urteil des Landgerichts Stade, das ihn am 29. Juni 2005 zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung hinter Gitter schickt.
Seinen Mithäftlingen erzählt er beispielsweise von zwei weiteren Kindern, zwei Anhalterinnen und zwei alten Damen, die er umgebracht haben will. Manchmal gibt er gar den konkreten Fundort an, die Polizei jedoch findet nichts. Auch bezüglich Adelina liegt ein derartiges Geständnis vor – keinesfalls gerichtsfest verwertbar, nicht mehr als einer ebendieser Gesprächsfetzen. „Trotz einer Reihe von Verdächtigen und Beschuldigten konnte der Beweis für eine Täterschaft oder Tatbeteiligung gegen bestimmte Personen anklagereif nicht erbracht werden“, stellt Polizeisprecherin Jagoda Matic rückblickend klar. So gelte Jäger 20 Jahre nach Adelinas Tod als ein ehemals Verdächtiger unter vielen.
In den Prozessen um Levke und Felix attestieren die Gutachter ihm volle Schuldfähigkeit – beziehungsweise, keineswegs krank zu sein. Jäger empfinde weder Lust an Quälereien, sagt der Psychiater, noch sei er sexuell primär an noch nicht pubertären Kindern interessiert. Er sehe diese vielmehr als Opfergaben. Sein Ziel: Zeichen setzen. Der Adressat: eine höhere Macht. Religionswissenschaftler ordnen derartige Opfer als ein Geschenk ein. Eines, das die gegenseitige Verantwortung zwischen einer Gottheit und den Menschen in den Fokus stellt. Eines des Schuldtransfers, das irgendwo zwischen abersinniger Verehrung, absonderlichem Ritual und der exorzistischen Vertreibung von Dämonen anzusiedeln ist. Eines, mithilfe dessen sich Kontakt zu einer höheren Sphäre aufnehmen lässt. Das tote Kind, es ist beides, Botschaft und Medium zugleich.

Viele Bürger beteiligen sich 2001 an einem Trauermarsch in Kattenturm.
Adelina, für die Ermittler bleibt ihre Geschichte ein Cold Case – ein viele Jahre ungeklärter, vermeintlich noch aufklärbarer Kriminalfall, ein Lehrstück für Rasterfahndungen und all die dazugehörigen Rückschläge. Die Hinterbliebenen behalten die Kattenturmerin als ein lebensfrohes Mädchen in Erinnerung. Wie insgesamt mehr als zwei Millionen Russlanddeutsche kam sie in den 1990er-Jahren in die Bundesrepublik. Rasch sprach sie fließend Deutsch, lernte Englisch und war gut in Naturwissenschaften, allen voran in Mathematik. Ein letztes Foto zeigt sie mit weißem Rollkragenpullover, grauer Strickjacke und runder Brille. Ihr dunkles Haar trägt sie liebevoll frisiert, mit Pony und zwei Zöpfen – im Gesicht das Lächeln eines jungen Mädchens. Es ist das Fahndungsfoto.
„Ich habe einen Teil von mir verloren“, sagt ihre Mutter kurz nach dem Fund des Leichnams. Ähnlich fühle sich Adelinas wenige Jahre jüngere Schwester. Die Ungewissheit bleibt. Bis heute.