Herr Weisser, 2021 erschien Ihre Publikation über den Riensberger Friedhof. Warum gibt es nun ein zweites Buch zum selben Thema?
Michael Weisser: Die Friedhofsgärtnerei Otte feiert in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen. Der Familienbetrieb hat mit seiner Arbeit einen großen Anteil am Erscheinungsbild des Riensberger Friedhofs. So bin ich auf die Idee gekommen, diesen besonderen Ort aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Das neue Buch soll jene Kräfte sichtbar zu machen, die ihn täglich beleben. Mir geht es dabei um den Friedhof als Ort von Natur und Kultur und um die Geschichte des alten Dorfes Schwachhausen, in das er eingebettet ist. Hinzu kommen neue Informationen zu Bremer Familien und zu Gräbern von Freimaurern und, das ist mir besonders wichtig, Aussagen von Persönlichkeiten aus Politik und Kultur zur großen Bedeutung dieses Friedhofs.
Wie sind Sie vorgegangen?
Ich bin der Frage nachgegangen, welche Kräfte diesen Ort von gestern bis heute prägen. Die Gärtnereien gestalten und pflegen die Gräber und Grünanlagen. Sie stellen die Verbindung von Natur und Kultur her. Die Bildhauer schaffen bleibende Erinnerungen aus Stein. Viele ihrer historisch und künstlerisch wertvollen Grabstätten und Skulpturen formen das Gesicht des Friedhofs. Und schließlich sind es die Bestatter, die Beisetzungen begleiten und damit eine ständige Bewegung schaffen. Auch dieses Mal habe ich viele Situationen fotografisch festgehalten und mein digitales Bremen-Archiv erweitert. Denn dieser Friedhof ist eben nicht nur eine Begräbnisstätte, sondern ein Biotop mit sich ständig verändernder Vegetation. Das Buch zeigt deshalb Aufnahmen von den alten Eichen, den Buchen, Erlen, Pappeln und Mammutbäumen. Außerdem beinhaltet es eine detaillierte Chronologie des Friedhofs, die seine Entwicklungsgeschichte übersichtlich und gut nachvollziehbar macht.
Wie bewerten Sie den aktuellen Zustand des Friedhofs?
Ich sehe seine Bedeutung als Dokument einer Ästhetik der Alltagswelt – und das ist gefährdet. Trotz Denkmalschutzes wurden Grabsteine abgeräumt. Nur 80 Anlagen sind überhaupt unter Schutz gestellt. Seit 1978 wurden kaum neue Steine in den Schutz aufgenommen oder neue Kriterien für einen erweiterten Erhalt definiert. Uniformierte Urnensammlungen besetzen zunehmend die besten Standorte. Ein gutes Beispiel ist der Grabstein des 1937 verstorbenen Bremer Dompredigers Erich Pfalzgraf. Das Grabkreuz wurde 2020 abgeräumt und landete auf der Deponie. Für mich ist das unbegreiflich, denn hier handelt es sich mit dem Kreuz nicht nur um das Sinnbild unserer christlichen Kultur, sondern auch um ein Stück bremischer Kirchengeschichte. Die Dokumente dazu sind in meinem Archiv. So ein Grab gehört bleibend auf diesen Friedhof. Leider ist das kein Einzelfall.
Was schlagen Sie vor, um diese Entwicklung zu stoppen?
Ganz klar: Es müssen mehr Gräber mit neuen Kriterien unter Schutz gestellt werden. Der künstlerische Wert darf keinesfalls der einzige Maßstab sein. Die Geschichten der Menschen hinter diesen Grabmalen müssen anhand der historischen Quellen herausgearbeitet und vor Ort erzählt werden. Bremische Geschichte darf hier nicht weiter verloren gehen. Das wäre die Aufgabe eines Landesmuseums in Kooperation mit dem Landeskonservator. Es gibt zahlreiche Gräber bedeutender Bremer, die ohne Schutz sind, wie das Grabkreuz des Theologen Wilhelm Nagel, der 1844 den zweiten Bremer Kirchenstreit entzündet hat, bei dem es um Glauben und Wissen ging.
Während der Arbeit an Ihrem ersten Buch sind Sie immer wieder über fehlerhafte oder mangelhafte Daten und Dokumente gestoßen. Wie sieht die Situation jetzt aus?
Leider nicht besser. Ein gutes Beispiel ist das Mausoleum Rutenberg. Wikipedia behauptet fälschlicherweise, die Figur auf dem Dach sei Christian, der ermordete Sohn des Baumeisters Rutenberg. Tatsächlich ist es eine allegorische Frauenfigur, die Hoffnung symbolisiert. Selbst die Datenbank des Landeskonservators lässt wichtige Informationen weg. Beispielsweise vermisse ich beim Mausoleum Rutenberg die Information, dass die Kuppel von Arthur Fitger ausgemalt ist und Büsten der Rutenbergs von Kropp und den Everdings vorhanden sind. Beim Mausoleum der Familie Schmiedell fehlt unter anderem der Hinweis, dass im Trauerraum die imposante Marmorskulptur „Die Liebenden“ von Ernesto Gazzeri steht. Es gibt so viele solcher Beispiele. Diese Auslassungen und Fehler führen dazu, dass die bremische Geschichte unvollständig und falsch in den digitalen Datenbanken gespeichert und genutzt wird. Hier sind schnelle Korrekturen unbedingt notwendig.
Der Riensberger Friedhof wurde am 1. Mai 1875 eingeweiht. Was wünschen Sie sich für das 150-jährige Bestehen im kommenden Jahr?
Mit dem Buch möchte ich vorab Informationen und Anregungen bereitstellen, um das wichtige Jubiläum im nächsten Jahr angemessen zu begehen. Der Riensberger Friedhof verdient eine öffentliche Hommage, denn er ist ein substanzielles kulturelles Erbe, das sorgfältig erhalten, geschützt und vermittelt werden muss.