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Baubehörde untersagt Nutzung Warum eine ukrainische Familie ihre Bremer Wohnung verlassen muss

Familie Berezhnyi ist aus der Ukraine nach Bremen geflohen – nun soll sie ihre Wohnung verlassen. Die Behörde sieht keine andere Möglichkeit, während der Vermieter und sein Anwalt auf einen Noterlass verweisen.
10.12.2022, 05:00 Uhr
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Warum eine ukrainische Familie ihre Bremer Wohnung verlassen muss
Von Felix Wendler

Die Berezhnyis sollen raus. Anfang November verschickte die untere Baubehörde ein Schreiben an Michael Kanstein, den Vermieter der ukrainischen Flüchtlingsfamilie. Das Gebäude in der Östlichen Vorstadt dürfe nicht als Wohnung genutzt werden, heißt es in dem Brief, der dem WESER-KURIER vorliegt. Innerhalb von drei Monaten müssen Oleh Berezhnyi, seine Frau Yuliia und die beiden Söhne Illia (18) und Vladislav (11) die Drei-Zimmer-Wohnung räumen. Kanstein und sein Anwalt Uwe Piehl kritisieren das Vorgehen der Behörde. Sie haben Widerspruch eingelegt und hoffen auf ein Einlenken der zuständigen Stellen. Der Anwalt spricht von einer "rechtlich, gesellschaftlich wie politisch heiklen Angelegenheit" – kompliziert ist sie allemal.

Bereits im Jahr 2009 hatte die Behörde eigenen Angaben zufolge eine Wohnnutzung für den Gebäudeteil untersagt. Demnach erlaubte der Bebauungsplan eine gewerbliche Nutzung, die aber mittlerweile keinen Bestand mehr habe. Als im Frühling dieses Jahres immer mehr ukrainische Kriegsflüchtlinge nach Bremen kamen, änderte sich die Situation – zumindest sah es Michael Kanstein so. Seit dem 1. Mai vermietet er laut Piehl die Wohnung an ukrainische Flüchtlinge – vermittelt habe die Arbeiterwohlfahrt. Vor den Berezhnyis wohnten dort dem Behördenbrief zufolge bereits vier andere Ukrainer. 

Für die Familie tut es uns natürlich leid.
Behördensprecherin Linda Neddermann

Wenig später ging bei der Behörde ein Hinweis ein, dass Kanstein illegal Wohnraum vermiete. Piehl räumt Fehler seines Mandanten ein. Der Eigentümer habe, so geht es auch aus dem Schreiben hervor, die Behörde nicht über den Einzug der ukrainischen Flüchtlinge informiert. Darüber herrscht Einigkeit. Umstritten ist folgende Frage: Hat Kanstein sich bewusst über das Wohnverbot hinweggesetzt? Die Baubehörde sieht das so. Piehl hingegen sagt, sein Mandant habe geglaubt, rechtmäßig zu handeln. 

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Kanstein und sein Anwalt beziehen sich dabei auf einen Erlass von Ende März, den Bausenatorin Maike Schaefer (Grüne) an die untergeordneten Behörden verschickt hatte. "Alle Krisensituationen erfordern von Behörden schnelle Entscheidungen oder eine unbürokratische Mithilfe bei der Krisenbewältigung", heißt es in dem internen Schreiben. Weil das Bauordnungsrecht auf Krisen wie die Flüchtlingswelle nicht ausreichend vorbereitet sei, solle eine sogenannte Nothilfevorschrift in der Landesbauordnung verankert werden.

Konkret geht es vor allem um eine vereinfachte Nutzungsänderung. Die Bauaufsicht solle auf das ansonsten übliche Genehmigungsverfahren verzichten. Gewährleistet werden müssten Sicherheitsaspekte – insbesondere der Brandschutz und die Statik.

Erlaubt dieser Erlass Kanstein, sein Gebäude als Wohnung zu vermieten? Die Baubehörde widerspricht. Es handele es sich um eine Richtlinie, "die keine unmittelbare Anwendung entfaltet", heißt es in dem Schreiben an den Vermieter. Die Regelung sei noch nicht in Kraft getreten. Tatsächlich soll das formell erst am 1. Januar 2023 passieren – dem internen Behördenschreiben zufolge sei die Vorschrift allerdings "bereits im Vorgriff" anzuwenden.  

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Nach Ansicht der Behörde fällt Kansteins Wohnung aber ohnehin nicht unter die Regelung: "Die Nutzung muss weiterhin materiell baurechtmäßig sein, was bei Ihnen nicht der Fall ist." Grundsätzlich richte sich die Nothilfevorschrift an Behörden – es gehe dabei also vor allem um Sammelunterkünfte, erklärt Linda Neddermann, Sprecherin der Bausenatorin. In dem Erlass ist zum Beispiel von "Behelfsbauten und Zelten" die Rede. "Für die Familie tut es uns natürlich leid", versichert Neddermann. Gemeinsam mit der Sozialbehörde suche man für die Berezhnyis eine neue Wohnung.

Die Mieter fühlen sich dort wohl und wollen bleiben.
Uwe Piehl, Anwalt des Vermieters

Anwalt Piehl wirft der Behörde vor, den Fall nicht genau genug geprüft zu haben – weder die mögliche Anwendbarkeit der Nothilfevorschrift noch eine möglicherweise erlaubte Abweichung vom Bebauungsplan. Letzteres ist laut Baugesetzbuch möglich, wenn das Wohl der Allgemeinheit dies erforderlich macht. Piehl verweist in seinem Widerspruch auch auf politische Aussagen, die die Notsituation untermauern sollen. Das Sozialressort hatte jüngst erklärt, dass bei der Unterbringung von Flüchtlingen in naher Zukunft "unpopuläre Maßnahmen" nötig werden könnten – die neuerliche Nutzung von Turnhallen wird diskutiert.

Unter diesen Umständen, so Piehl, sei das Vorgehen gegen seinen Mandanten der Öffentlichkeit nicht vermittelbar. "Die Mieter fühlen sich dort wohl und wollen bleiben", sagt der Anwalt. Der ältere Sohn besuche die Integrationsschule in der Stresemannstraße. Piehl zufolge haben die Berezhnyis zuvor in einem Flüchtlingszelt gewohnt. Ihre neue Unterkunft ist – zumindest dem äußeren Anschein nach – von anderen Wohnungen nicht zu unterscheiden. "Es ist eine Wohnung in einem Gewerbegebiet", sagt Piehl. Brandschutz und Statik seien gewährleistet, was die Behörde aufgrund früherer Prüfungen auch wisse. "Am einfachsten wäre es, wenn noch mal jemand vorbeikommt und sich die Wohnung anguckt", sagt Piehl. Dann, so der Anwalt, lenke die Behörde hoffentlich ein.

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