Kein gutes Haar ließ Franz Schlunk an der Skulptur der Bremer Stadtmusikanten. Es sei "einfach unbegreiflich", polterte der Vorsitzende der Vereinigung für Stadtbildgestaltung und Baurechtsreform am 10. Oktober 1953, wie man der Bremer Bevölkerung und fremden Besuchern "das Gebilde des Bildhauers Marcks" zumuten könne. Schon die kurze Zeit seit der Aufstellung habe klar erkennen lassen, dass die Bevölkerung dieses Kunstwerk ablehne, ließ der damals parteilose Bürgerschaftsabgeordnete in einem Leserbrief an den WESER-KURIER wissen. Doch aus seiner Sicht war noch nichts verloren. Dringend empfahl Schlunk die Schaffung einer humorvolleren Tiergruppe, die dem "Volksempfinden" näherkomme.
Vor genau 70 Jahren, am 30. September 1953, fand die berühmte Tierpyramide von Gerhard Marcks ihren heutigen Platz an der westlichen Seite des Rathauses. Zunächst allerdings nur als Leihgabe des Künstlers für die Dauer eines Jahres, die Finanzierung der 20.000 Mark teuren Bronzeplastik musste erst noch geklärt werden.
Das war Wasser auf die Mühlen der Kritiker. Die geplante Geldbeschaffung werde "hoffentlich ohne Erfolg" bleiben, ereiferte sich Schlunk. Stattdessen rief der 56-Jährige zu einer Gegenaktion von unten auf. Eine bremische Organisation solle sich mit einem Spendenaufruf an die Bevölkerung wenden, "damit eine Plastik ermöglicht wird, die echten Volkshumor ausstrahlt".
Bremer Stadtmusikanten wurden in zahlreichen Leserbriefen kritisiert
Vermutlich schwebte Schlunk eine derbere Darstellung der Bremer Stadtmusikanten vor. Die strenge, leicht abstrahierende Formgebung der Skulptur ging in seinen Augen an der unbeschwerten Botschaft des Märchens komplett vorbei. Aus Märchen- und Lesebüchern habe man sich doch ein bestimmtes Bild der Stadtmusikanten gemacht, schimpfte ein weiterer Leserbriefschreiber. Über "diese wie Gummitiere aussehenden Stadtmusikanten" werde mancher enttäuscht sein. "Muss man denn so charakteristische Märchenfiguren unbedingt modern darstellen?"
Der Sturm der Entrüstung äußerte sich vor allem in Leserbriefen an die Bremer Nachrichten, der traditionellen Heimatzeitung. Zunächst hielten sich Pro und Contra die Waage. Doch die Stimmung schlug um, vielleicht auch weil Schlunk kräftig auf die Pauke haute. In der zweiten Oktoberhälfte 1953 sprachen sich von 52 Zuschriften nur noch drei für die Marcks-Skulptur aus. Ein paar Wochen später forderte Schlunks Vereinigung, das ganze Verfahren neu aufzurollen. Ein Wettbewerb "unter weitestgehender Berücksichtigung ortsansässiger Künstler" müsse her – eine Spitze gegen den gebürtigen Berliner Marcks, der seit 1950 in Köln lebte.
Heute sind die Stadtmusikanten positiver Imageträger
Wie anders dagegen die heutige Wahrnehmung. Längst sind die Marckschen Stadtmusikanten zu einem Wahrzeichen der Stadt avanciert. Das offizielle Bremen verwendet die Skulptur als Logo. Marcks selbst könnte fast als inoffizieller Bremer Ehrenbürger durchgehen, seine vortrefflichen Kontakte nach Bremen haben in dem nach ihm benannten Museum beredten Ausdruck gefunden.
Bezeichnend auch, dass das umgebaute Kontorhaus ab 2025 den Namen Stadtmusikanten- und Literaturhaus tragen soll. Die Stadtmusikanten sind ein positiver Imageträger. Und daran hat Marcks wesentlichen Anteil, erst mit seiner Skulptur sind Esel, Hund, Katze und Hahn so richtig in Bremen angekommen – auch wenn das im Märchen der Gebrüder Grimm gar nicht der Fall ist.
Aber wie kam man überhaupt darauf, die Bremer Stadtmusikanten in Bremen plastisch zu verewigen? Um der Wahrheit die Ehre geben: Diese Idee lässt sich schon zuzeiten des "Dritten Reichs" nachweisen. Zusammen mit einheimischen Geschäftsleuten regte der Münchner Bildhauer Adolf Rothenburger 1937 ein Denkmal für die Stadtmusikanten an. Damit sollte Touristen etwas geboten werden, deshalb wurde auch der Bahnhofsplatz als Standort favorisiert. Doch das Hochbauamt legte Einspruch ein. Die Stadtmusikanten seien dort zu "kleinlich", fremde Besucher müssten auf Höhepunkte bremischer Geschichte hingewiesen werden.
Leiter der Kunsthalle soll Inspiration für Stadtmusikanten geliefert haben
In dem vor 30 Jahren publizierten Stadtmusikanten-Buch von Andreas Röpcke und Karin Hackel-Stehr heißt es, der damalige Leiter des Verkehrsvereins, Hanns Meyer, habe den Gedanken aus NS-Zeiten anlässlich der Gerhard-Marcks-Ausstellung in der Kunsthalle im April 1951 aufgegriffen und an den Künstler weitergegeben. "Der war von der Idee begeistert und machte sich sogleich an die Arbeit."

An einem ganz ungewohnten Standort: Die Bremer Stadtmusikanten am 11. März 1953 vor der Kunsthalle.
Allerdings ist diese Angabe mindestens stark verkürzt: Meyer spielte damals sicher eine Rolle, aber nicht die Hauptrolle. Eine weitere Version bietet der Bremer Künstler Gustav-Adolf Schreiber an. Marcks sei bei einem Besuch in Bremen "von sich aus spontan auf die Idee" mit den Stadtmusikanten gekommen, versicherte er in einem Leserbrief im WESER-KURIER. Beides scheint falsch zu sein. Vielmehr soll der damalige Leiter der Kunsthalle, Günter Busch, von amerikanischen Verehrern der Stadtmusikanten bei einer US-Reise im Sommer 1950 inspiriert worden sein, das Projekt anzupacken.
Das geht aus aktuelleren Nachforschungen von Dieter Brand-Kruth und Arie Hartog hervor, dem Direktor des Gerhard-Marcks-Hauses. Danach erfuhr der passionierte Tierdarsteller Marcks erstmals am 6. April 1951 von der Idee mit den Stadtmusikanten. Und zwar durch Vermittlung des Hamburger Galeristen Rudolf Hoffmann. "Wäre das nicht eine Aufgabe, die Ihnen Freude machen würde?", erkundigte er sich bei dem Bildhauer. Eine Tierplastik zu erstellen, die gerade "nicht sentimental und niedlich" wäre. Dem war so, Marcks ließ sich nicht lange bitten. Am 14. April antwortete er: "Für die Bremer Stadtmusikanten hätte ich Interesse." Freilich nur unter zwei Bedingungen: nämlich dass ein geeigneter Platz etwa am Rathaus gefunden werde und die Skulptur aus Bronze angefertigt werden könne. Mit anderen Worten, der heutige Standort und die Wahl des Materials entsprachen Marcks' Wünschen.
Erste Stadtmusikanten-Skizze zeigte nur drei Tiere
Kurioserweise sind auf einer ersten Skizze von des Künstlers Hand auf dem Hoffmann-Schreiben nur drei Tiere zu sehen, die Katze sucht man vergebens. Gegenüber Busch erklärt Marcks am 12. Mai 1951, er habe sich "in der letzten Woche mit den 3 Stadtmusikanten auseinandergesetzt" – um gleich danach von den vier Bronzetieren zu sprechen.
Eine plausible Erklärung dafür gibt es nicht, vielleicht hat Marcks es einfach nicht so genau genommen. Noch im gleichen Monat stellte Marcks einen ersten Gipsentwurf her. Ein gutes halbes Jahr später konnte der Bildhauer Vollzug melden – das große Gipsmodell stand für den Guss bereit. "Die Bremer Stadtmusikanten sind fertig", teilte er Hoffmann am 10. Dezember 1951 mit. Zum Glück waren es vier und nicht nur drei Tiere. Der erste Guss erfolgte im Februar 1952.
Auf einer internationalen Bildhauerausstellung im niederländischen Arnheim wurde die Bronzeskulptur im Sommer 1952 zum ersten Mal öffentlich gezeigt. Voll des Lobes war der Bremer Regierungsdirektor Eberhard Lutze. Bei der Probeaufstellung am Rathaus werde man "diese Strenge (...) vorteilhaft empfinden", verkündete er im WESER-KURIER. Als es am 11. März 1953 so weit war, ließ man allerdings noch nicht die Hüllen fallen. Am gleichen Tag verschwand die Skulptur schon wieder im Keller der Kunsthalle. Bei dieser Gelegenheit dürfte dem Fotografen Georg Schmidt ein Schnappschuss der unverhüllten Stadtmusikanten gelungen sein. Knapp einen Monat später wurde die Skulptur abermals vorm Rathaus aufgestellt – diesmal ohne Decken und im Beisein des Künstlers.
Als Aprilscherz brachte der WESER-KURIER einen Standort beim damaligen Hillmann-Café mit Blick auf die Wallmühle ins Spiel. Baudirektor Klaus Tippel fand das witzig, erklärte aber, die Stadtmusikanten seien als Symbol für Bremen noch bekannter als der Roland. "Deshalb müssen sie am prominentesten Platz der Stadt, am Rathaus oder in dessen Nähe stehen." Es gab indessen auch andere Ansichten. Als "Unding" bezeichnete Schlunk die Standortwahl. Weitere Kritiker plädierten dafür, die Marcks-Skulptur in "einen großen Privatgarten" oder in den Schnoor zu verfrachten.
Auf dem Gipfel der öffentlichen Schelte waren im WESER-KURIER, den Hartog im Gegensatz zu den Bremer Nachrichten als Medium der Marcks-Befürworter sieht, aber auch bestärkende Stimmen zu hören. Ein Leser geißelte Schlunks Abneigung gegen fremde Künstler und warf ihm sich vor, sich in der Wortwahl zu vergreifen. "Vom 'gesunden Volksempfinden' wollen wir lieber nicht erst reden", schrieb er in Anspielung auf die braune Vergangenheit.
Sind die Vorderbeine des Esels wirklich Glücksbringer?
Derweil gab der Bremer Maler und Bildhauer Schreiber selbstkritisch zu bedenken: "Warum kam keiner der Bremer Künstler – einschließlich meiner Person – auf den Gedanken, das gleiche zu tun?" Auf Marcks' Seite schlug sich auch der Heimatdichter Heinrich Schmidt-Barrien, der dessen Stadtmusikanten kurzerhand zu Plattdeutschen machte.
Als "provinzieller Streit" erscheint Hartog die Kontroverse. Jedenfalls gelang es den Marcks-Kritikern augenscheinlich nicht, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Im Februar 1955 war im WESER-KURIER zu lesen, Bremer Bürger aus allen Kreisen hätten mit ihren Spenden dazu beigetragen, die Stadtmusikanten zu erwerben. Nur eine Restsumme musste der Verkehrsverein durch ein städtisches Darlehen beisteuern.
Für die meisten Touristen sind die Stadtmusikanten inzwischen eine unverzichtbare Anlaufstelle. Fragt sich nur noch, woher der Brauch rührt, die beiden Vorderbeine des Esels als Glücksbringer anzufassen. Ein alter Volksglaube kann es kaum sein. Hartog spricht von einer "urban myth", einem modernen Mythos, der im Laufe der 1990er-Jahre entstanden sei.