Die Kinder stehen im Kreis und tragen Masken, niemand sieht etwas. Dabei ist es mucksmäuschenstill im Raum. Dann flüstert der Junge in der Mitte des Kreises kaum hörbar einen Namen: Das angesprochene Mädchen kommt in die Mitte. Die Kinder müssen die Ohren spitzen. Sieben Zweitklässler, die allesamt eine andere Muttersprache als Deutsch haben, lernen spielerisch, ganz genau hinzuhören. Dabei leitet sie Sprachheilpädagogin Corinna Garn-Jannusch an. Das Flüsterspiel ist Teil eines Sprachförderprogramms an der Grundschule Glockenstraße in Hemelingen.
Ein großes Thema in Bremen
Sprachförderung soll in Zukunft an Bremer Kitas und Schulen ausgeweitet und verbessert werden. Dazu haben die Regierungsfraktionen am Mittwoch auf Initiative der Grünen einen Beschluss gefasst. Sprachdefizite sind in Bremen ein großes Thema: Mehr als jedes dritte Kind hat Förderbedarf. Wie Sprachförderung in der Praxis aussehen kann, lässt sich an der Grundschule Glockenstraße beobachten. Dort wird seit 2017 das Förderprogramm „Mitsprache“ umgesetzt. Dabei werden Kinder spielerisch beim Spracherwerb gefördert. Zuerst werden sie getestet, danach werden Kleingruppen mit maximal sieben Kindern zusammengestellt. Viermal pro Woche werden diese Kinder für 45 Minuten aus dem normalen Unterricht herausgenommen und kommen zum Sprachförderkurs zusammen.
Yoga zum Aufwärmen
Im Kurs geht es konzentriert, aber keineswegs ernsthaft zu: Zunächst wärmen sich alle mit Yogaübungen auf. Bewegung regt das Hirn an und fördert das Lernen, das ist erwiesen. Danach kommt Katze Mimmi zu Besuch – eine Handpuppe, die von der Kursleiterin zum Leben erweckt wird. Mimmi wird von den Kindern geliebt, jeder freut sich, von der sprechenden Katze begrüßt zu werden. Und Mimmi liest heute eine Geschichte vor.
Die Kinder sollen dabei nicht einfach nur still sitzen und zuhören, sondern schnell von ihren Stühlen aufstehen, sobald der Name Paul fällt. So ist garantiert, dass sie aufpassen müssen – und sie sind mit Feuereifer dabei. Corinna Garn-Jannusch setzt viel auf Wiederholungen, damit sich die Worte einprägen. Und sie spricht die teils etwas krummen Sätze der Kinder noch einmal richtig nach. Wie sich die Katze Mimmi geschüttelt hat, die in der Geschichte aus Versehen ins Schwimmbad gefallen ist, daran erinnern sich die Kinder genau, das machen sie lebhaft nach. Aber die Worte „tauchen“ und „abtrocknen“ kennen noch nicht alle.
Schulleiterin Sylvia Rugen ist überzeugt von dem Konzept des Mitsprache-Projekts: „Das Programm ist wirklich eine große Hilfe, es ist wissenschaftlich fundiert und evaluiert, und es gibt tolle Materialien dazu“, sagt Rugen. Sie öffnet einen großen Schrank voller Kartenspiele, die beim Spracherwerb helfen sollen. Der Wortschatz wird bei einem Bingo-Spiel mit Tierkarten erweitert, und es gibt Anziehpuppen, um die Bezeichnungen für alle Kleidungsstücke zu üben. Es gibt Grundschulkinder, die können ihre Kleidungsstücke weder auf Deutsch noch in ihrer Muttersprache benennen, sagt Garn-Jannusch: „Nicht in allen Familien wird gesprochen: Man kann ein Kind auch anziehen, ohne zu benennen, was man da tut – aber genau durch so etwas lernen natürlich Kinder.“
Das Mitsprache-Programm läuft jetzt an vier Schulen und vier Kitas in Hemelingen und Sebaldsbrück. Inzwischen haben die Kinder, die neu in die Sprachförderkurse der Glockenstraße kommen, bereits in der benachbarten Kita ein Jahr „Mitsprache“ hinter sich. Familie Fröhlich, zu der Katze Mimmi gehört, begleitet diese Kinder dann als vertraute Truppe vom Kindergarten in die Schule. Und ein Jahr Sprachförderung in der Kita bringt richtig viel, sagt Schulleiterin Rugen: „Die Kinder können nach einem Jahr dann bei uns einem niedrigschwelligen Unterricht folgen.“
Die Grundschule Glockenstraße war eine der ersten Schulen, an der das Programm startete. „Wir wurden angesprochen, weil wir als Schule in einer besonders prekären Lage sind“, sagt Schulleiterin Sylvia Rugen. Ihre Grundschule ist eine der Schulen in Bremen, die einen sehr hohen Sozialindikator haben. Konkret heißt das: Das Einzugsgebiet der Schule ist durch Armut und Migration geprägt. Viele Kinder kommen aus Einwanderer- und Flüchtlingsfamilien, die schon vor vielen Jahren oder auch erst kürzlich aus der Türkei, Bulgarien, dem Libanon und Syrien nach Bremen gekommen sind.
„In ihren Familien hören die Kinder oft kein oder nur brüchiges Deutsch, viele lernen die Sprache auf der Straße“, erzählt Rugen. Die Kinder könnten sich zwar schnell untereinander verständigen, allerdings: „Die Kinder sagen dann Sätze wie „Wollen wir Fußball?“ – das ist ein Straßendeutsch, das mit der Bildungssprache, wie wir sie an der Schule sprechen, wenig zu tun hat.“ Zum Teil gebe es kaum Kinder in den Klassen, die Deutsch als Muttersprache haben: „Und die Muttersprachler, die es gibt, sind auch nicht immer gute Sprachvorbilder.“ Rugen stellt klar: „Der Sprachförderbedarf bei uns ist immens.“ Mehr als 70 Prozent der Kinder hätten sprachliche Schwierigkeiten. Auch das Programm Mitsprache erreicht nur einen kleinen Teil der Schüler: Von knapp 160 Kindern an der Schule werden derzeit 26 im Programm gefördert.
Finanziert von zwei Stiftungen
Fortbildungen für die Sprachförderkurse absolvierte in der Glockenstraße das komplette Kollegium. Dennoch können die Kurse nicht immer stattfinden, sagt Rugen: „Wir haben an der Schule hohe Belastungen und deshalb auch einen hohen Krankenstand.“ Und wenn Lehrkräfte fehlen, müsse die Sprachförderung leider oft ausfallen. Finanziert wird das Programm Mitsprache hauptsächlich von zwei Stiftungen – der Stiftung Fairchance und der Hemelinger Stadtteilstiftung sowie durch einen privaten Spender und den Rotary-Club.
Die Schulen und Kitas, die an dem Programm teilnehmen, werden dabei laut Schulleiterin Rugen von der Bildungsbehörde durch zusätzliche Mittel für Personal unterstützt. Ein zusätzlicher Sozialarbeiter, den sich die Schulen im Programm Mitsprache teilen, arbeitet mit den Eltern zusammen: Er informiert sie über das Förderprogramm und gibt Tipps, wie sie ihre Kinder unterstützen können. Geplant ist nun der Schulleiterin zufolge eine Ausweitung des Programms auf mehr Schulen und Kitas.