Mehr als eine komplette Zeitungsseite widmete die "Bremer Nationalsozialistische Zeitung" (BNZ) einer Undercover-Reportage aus dem Konzentrationslager Mißler. Auf der Titelseite der Ausgabe vom 23. Juli 1933 war es angekündigt: Ein BNZ-Redakteur bewegte sich zwei Tage unerkannt als Schutzhäftling im KZ Mißler, dem berüchtigten Sondergefängnis für politische Häftlinge in Findorff. Was dahinter steckte, formulierte die BNZ so: Durch "Tatsachenmaterial" wolle man der "Lügenhetze der ausländischen Judenpresse" entgegentreten. Das nicht sonderlich überraschende Resultat: Von Misshandlungen könne keine Rede sein, der Gummiknüppel sei kein einziges Mal zum Einsatz gekommen.
Anders als vielfach angenommen, breitete das NS-Regime zumindest in seiner Anfangszeit keineswegs den Mantel des Schweigens über die Existenz von Konzentrationslagern aus. Im Gegenteil, als in den früheren Auswandererhallen des Norddeutschen Lloyd an der Walsroder Straße Ende März 1933 ein KZ eingerichtet wurde, berichteten die verbliebenen Zeitungen darüber, neben der BNZ auch die "Bremer Nachrichten". Letztere vermeldeten damals, etwa 100 inhaftierte Marxisten und Kommunisten seien "in ein Konzentrationslager geführt" worden. Danach tauchte das KZ immer mal wieder mit oder ohne Ortsangabe in der Berichterstattung auf.
Teils geschah das in ganz unerwarteten Zusammenhängen. In einer Reportage über die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs zog die hitlerkritische Auslage eines französischen Buchhändlers den Zorn des Journalisten auf sich. "Am liebsten hätten wir den braven Besitzer zu einer kleinen Ausspannung bei Missler eingeladen." Eine nähere Erläuterung folgte nicht – man setzte also voraus, dass die Leser orientiert waren. Freiwillig stattete die emigrierte Großfürstin Maria von Russland dem Lager im August 1933 einen Besuch ab, eine Bewunderin des "neuen Deutschland". Weil ihr Berichte über Misshandlungen zu Ohren gekommen waren, wollte sich die Cousine des letzten Zaren aus eigener Anschauung einen Eindruck verschaffen. Zusammen mit Gauleiter Carl Röver habe sie "außer den Sehenswürdigkeiten der Hansestadt das Konzentrationslager Mißler" besichtigt, teilte die BNZ mit.

Groß aufgemacht: Undercover-Reportage der "Bremer Nationalsozialistischen Zeitung" (BNZ) aus dem KZ Mißler vom 23. Juli 1933.
Dass politische Umerziehung auf der Agenda stand, zeigt eine BNZ-Meldung vom 11. Mai 1933, der zufolge Wilhelm Uhde von der NS-Betriebszellenorganisation "im Konzentrationslager" über Nationalsozialismus und Marxismus gesprochen habe. Dabei soll es zu einem Austausch gekommen sein. "Es wurde den Schutzhaftgefangenen Gelegenheit gegeben, Fragen an den Referenten zu richten."
Die letzte Meldung zum KZ erschien am 13. September 1933. In der Rubrik "Worüber man in Bremen spricht" hieß es in der BNZ, das Konzentrationslager Mißler sei verlegt worden. Der Grund: Für die Schutzhäftlinge hätten sich Arbeitsmöglichkeiten gefunden, der größte Teil von ihnen sei jetzt "auf einem Schiff" untergebracht – gemeint war das KZ-Schiff Ochtumsand.
Eine Undercover-Reportage aus dem KZ? Das dürfte so ziemlich außergewöhnlich sein in Zeiten, da die freie Presse schon längst der Vergangenheit angehörte. Laut BNZ gab ihr politischer Redakteur Kurt Teege den Anstoß. Um ein "völlig klares Bild von dem Leben und Treiben in einem solchen Konzentrationslager zu bekommen", habe er bei der Gestapo den Wunsch geäußert, "einmal unerkannt mehrere Tage und Nächte als Schutzhäftling in einem Konzentrationslager verbringen zu dürfen". Die Gestapo habe diesem Wunsch "das größte Verständnis" entgegengebracht.
Teege betonte, weder die Inhaftierten noch die Wachen seien über seine wahre Identität im Bilde gewesen. Auch nicht der Lagerkommandant, SA-Sturmführer Hermann Goebel. Ein "ganz verblüfftes Gesicht" habe Goebel gemacht, als ihm schließlich die Augen geöffnet wurden. Der Grund: Teege wollte nach eigener Angabe nicht bevorzugt behandelt werden. Darum habe er sich als "Handlungsgehilfe und Marxist" Kurt Sachse aus Halle an der Saale ausgegeben, der vor sechs Wochen auf der Suche nach Arbeit nach Bremen gekommen sei. Am Morgen sei er vor dem Postamt Domsheide aufgrund seines ungepflegten Zustands wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verhaftet worden. Wohlgemerkt: in Abstimmung mit der Gestapo, aber ohne Wissen von Polizei und SA.
Per Ehrenwort versicherte Teege, man sei mit ihm "genau so umgesprungen, wie mit jedem anderen". Weder er noch irgendein anderer der 140 Schutzhäftlinge hätten auch "nur einen Schlag mit dem Gummiknüppel oder sonst irgendeinem Gegenstande" abbekommen. "Es gibt eigentlich nur eins in Bremens Konzentrationslager, was die Häftlinge so etwas mit Unbehagen erfüllt." Das seien die täglichen Freiübungen – eine Stunde am Morgen oder Abend. Es werde bei diesen Übungen nichts Unmenschliches verlangt, aber sie seien anstrengend. Er selbst habe einen "ausgewachsenen Muskelkater" davongetragen.
Tatsächlich gibt die Teege-Reportage nicht einmal die halbe Wahrheit wieder. Die ganze Wahrheit lautet: Schwere Misshandlungen im KZ Mißler sind vielfach bezeugt. Es wird sich kaum ergründen lassen, ob Teege seinen Lesern bewusst Lügen auftischte oder während seines 56-stündigen Kurzaufenthalts wirklich keine Gewaltexzesse zu verzeichnen waren. Darauf hat auch der Historiker Jörg Wollenberg keine Antwort, der wohl beste Kenner der Materie. Allerdings weist er darauf hin, dass die Teege-Reportage kein Einzelphänomen darstellt. Zahlreiche Zeitungen berichteten laut Wollenberg 1933/34 "offen und manipuliert" über das Geschehen in den Konzentrationslagern und den Versuch, aus Regimegegnern "gute deutsche Volksgenossen" zu machen. "Von Misshandlungen und Folterungen wurde geschwiegen."
Von der Forschung belegt sind Prügelorgien bereits in der Anfangszeit im Frühling. Damals fungierte ein 40-köpfiges SS-Kommando als Lagerwache. Schon bei der Ankunft wurden die Häftlinge mit Gummiknüppeln traktiert. Gefürchtet waren die nächtlichen Vernehmungen im Heizungskeller. "Nur mit einem Hemd bekleidet, mussten die Gefangenen in den Keller, wo man ihnen im Dunkeln eine Decke über den Kopf warf und sie dann anschließend grün und blau schlug", hieß es 1949 in den Prozessakten. Über einen schönfärberischen Zeitungsartikel bemerkte der inhaftierte KPD-Funktionär Heinrich Buchholz am 4. Mai 1933 in einem Brief an seine Frau sarkastisch: "Nachdem wir den Bericht gelesen haben, will hier keiner mehr raus."

Stramm stehen: Schutzhäftlinge im Hof des Konzentrationslagers Mißler.
Für das auf seine Außenwirkung bedachte neue Regime wuchs sich das KZ im Wohngebiet zu einem ernsthaften Imageproblem aus. Obschon Mißler kein KZ ohne staatlichen Zugriff war, stand es den illegalen Folterstätten in keiner Weise nach. Im Heizungskeller und anderen Räumen malträtierten die SS-Männer "zahlreiche Inhaftierte auf grausame, oft sadistische Weise" schreiben Inge Marßolek und René Ott in ihrem Standardwerk "Bremen im 3. Reich". Besonders auf den SPD-Reichstagsabgeordneten Alfred Faust, Chefredakteur der verbotenen "Bremer Volkszeitung" und nach dem Krieg Pressechef des Senats unter Bürgermeister Wilhelm Kaisen, hatten es die SS-Schergen abgesehen. Ein weiteres prominentes Opfer: der ehemalige Reichsbannerführer Oskar Drees, der den Ort des Geschehens nur allzu gut kannte – in den früheren Auswandererhallen hatte der republikanische Wehrverband bis 1933 ein Lager unterhalten.
Die Misshandlungen sollen selbst dem damaligen Polizei- und Innensenator Theodor Laue zu weit gegangen sein. Am 6. Mai 1933 ordnete er die Ablösung der SS-Lagerwache an – und ersetzte sie durch "vermeintlich ergebene SA-Hilfspolizisten", wie Marßolek und Ott schreiben. Freilich erwies sich das als Versuch, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Nach Angabe des Regionalhistorikers Herbert Schwarzwälder setzten die Misshandlungen Mitte Juni 1933 wieder ein. Die Zustände unter dem neuen Lagerleiter Goebel seien wieder "so schlimm wie zuvor" geworden, konstatieren Marßolek und Ott. Der Senator sei "kreidebleich" geworden, als er den geschundenen Körper Fausts zu Gesicht bekam, sagte der kommunistischen Funktionär Georg Buckendahl.
Gleichwohl gibt es keine stichhaltigen Hinweise dafür, dass Laue gegen Prügel und Folter im KZ Mißler wirkungsvolle Maßnahmen ergriffen hätte. Bis zur Auflösung des Lagers im September 1933 scheint es Übergriffe des Wachpersonals gegeben zu haben. Teeges Reportage erscheint deshalb als durchsichtiger Versuch, die Wahrheit zu verschleiern – als Reaktion auf die schlechte Auslandspresse und hartnäckige Gerüchte vor Ort. Brutale Gewaltanwendung gehörte zur DNA der NS-Herrschaft. In Bremen beschränkte sie sich auch nicht auf das KZ Mißler – vielleicht noch ärger ging es im Gossel-Haus zu, der SA-Folterstätte am Buntentorsteinweg. Daran hatte auch Laue seinen Anteil: Der gern als "anständiger Nazi" beurteilte Senator machte am 27. Juni 1933 den Weg frei für verschärfte Verhöre durch die braune Schlägertruppe.