Der Ritt auf der Rasierklinge ist das Lebensgefühl der Bremer Liberalen. Mal schaffen sie es über die Fünf-Prozent-Hürde, mal nicht. Seit Anfang der Neunzigerjahre reichte es viermal für den Einzug in die Bürgerschaft, viermal wurde er verfehlt. Man könnte sagen: Das ständige Bangen um die parlamentarische Existenz ist die eigentliche Konstante.
Für die Bürgerschaftswahl am 14. Mai 2023 sind die Ausgangsbedingungen nicht günstig. Denn die Bundes-FDP regiert in Berlin zwar mit, profitiert aber nicht davon. Im zu Ende gehenden Jahr verloren die Liberalen bei der wichtigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen mehr als die Hälfte der Stimmen, im benachbarten Niedersachsen kam gar das Aus. Und in Bremen? Hier verabschiedet sich die Fraktionsvorsitzende Lencke Wischhusen aus der Politik. Ihr etwas selbstbezogener Stil war zwar stets umstritten, doch eines konnte ihr niemand absprechen: Erfolg. 2015 gelang unter ihrer Führung die Rückkehr in die Bürgerschaft. 2019 konnte sich die FDP immerhin behaupten.
In den Wahlkampf ziehen die Freien Demokraten nun mit einem neuen Spitzenkandidaten, der sich in weiten Teilen der Öffentlichkeit erst einmal bekannt machen muss: Thore Schäck, studierter Ökonom und Wirtschaftspsychologe. Seine berufliche Vita weist Stationen als Unternehmensberater und Personalchef bei aufstrebenden Firmen aus. 2020 machte sich Schäck selbstständig. Was die Wenigsten wissen: Der FDP-Landeschef hat eine politische Vergangenheit als Sozialdemokrat. Zwei Jahre lang war der 37-Jährige Mitglied des Ortsvereins Horn-Achterdiek. Der SPD kehrte Schäck den Rücken, weil er mit ihrer Sozialpolitik nicht mehr klar kam. Schäck war in seiner Kindheit und Jugend selbst nicht auf Rosen gebettet. Auch deshalb glaubt er, dass der Staat in der Sozialpolitik gefordert ist. Aber nicht, indem die Politik flächendeckend finanzielle Leistungen verteilt, sondern indem sie das Individuum in die Lage versetzt, etwas aus sich zu machen. Der Einzelne hat aus Schäcks Sicht also auch eine Bringschuld. Er muss etwas aus sich machen wollen.
Diese Haltung – das Bekenntnis zu Aufstieg und Leistungsbereitschaft und zur helfenden Rolle des Staates – soll in der Wahlkampagne der FDP eine zentrale Rolle spielen. In Szene gesetzt wird sie von der Berliner PR-Agentur "Heimat Berlin", die der Bundes-FDP mit einem Rahmenvertrag verbunden ist. 2017 gelang ihr bei der Bundestagswahl eine viel beachtete, innovative Kampagne. Aktuell sind die "Heimat"-Strategen dabei, Thore Schäcks Credo in griffige Parolen zu stanzen. Auf den Plakaten wird es dann beispielsweise heißen: "Angeln lernen statt Fische verteilen." Anders gesagt: Es ist besser, Kompetenzen zu erwerben und sich damit etwas aufzubauen, als vom Staat alimentiert zu werden. Letztlich ist das die klassische liberale Botschaft, aber ergänzt durch eine klare Funktionszuweisung an den Staat – wer Hilfe braucht, soll sie auch bekommen. "Wir brauchen mehr Geld für das Bildungssystem, wenn nötig auf Kosten anderer Felder", bekräftigt der Spitzenkandidat. So würden beispielsweise an den Schulen in großer Zahl Assistenzkräfte benötigt, Sozialpädagogen und Techniker, die die Lehrer von Arbeit entlasten. Die Schulen bräuchten mehr Entscheidungsfreiheit über ihre Budgets, aber eben auch mehr Leistungsorientierung.
Mit solchen Aussagen soll Thore Schäck als kompetent, lösungsorientiert und zugleich empathisch wahrgenommen werden. Das gilt auch für die Wirtschaftspolitik, früher gerade im Bund eine Domäne der Liberalen. "Warum hat Oldenburg eine größere Start-up-Szene als Bremen?", fragt Schäck, "das ist doch peinlich." Nur eine starke Wirtschaft könne die Steuereinnahmen erbringen, die der Staat für seine helfende Funktion brauche.
Für diese Positionen wird eine Kampagne entworfen, die nach den Worten von Generalsekretär Claas Bansemer "polarisiert, ohne krawallig zu sein". Zugeschnitten wird sie klar auf den Spitzenkandidaten, der auf den Plakaten "nicht klassisch in Anzug und Krawatte" daherkommt, so Bansemer. "Das Ziel muss sein, mich stärker bekannt zu machen", ergänzt Thore Schäck. Immerhin 31 Prozent der Bremer sagt sein Name etwas, wie das Meinungsforschungsinstitut INSA kürzlich ermittelte. Schäck hält das für eine "gute Absprungbasis". Doch er weiß selbst: Da ist noch Luft nach oben. Eine Art Kompetenzteam um ihn herum soll es deshalb auch nicht geben – es würde nur den Fokus unnötig verschieben.
Eine Koalitionsaussage wird man von den Liberalen im Wahlkampf nicht zu hören bekommen. "Wir werden keine Option ausschließen", sagt Claas Bansemer, also beispielsweise auch keine Regierungsbeteiligung an der Seite von SPD und Grünen. Liberale Senatoren gab es in Bremen zuletzt vor 27 Jahren, damals in der ersten Ampelkoalition auf Landesebene. Ein Kreis würde sich schließen.